„Letztes Jahr habe ich zum ersten Mal eine Städtereise in Andalusien unternommen“ erzählt Francine, die früher als Philosophie-Lehrerin an einen Lycée gearbeitet hat „und habe dabei einige Städte wie Cordoba, Sevilla oder Malaga besucht. Es ist schon außerordentlich beeindruckend, die Spuren von Al-Andalus in diesen Städten wiederzufinden. Die großartige Mezquita in Cordoba, die Reales Alcazares, die königlichen Paläste, genauso wie die Giralda, den Glockenturm der Kathedrale von Sevilla, das einstige Minarett der Moschee...“ „Die Festung der Alhambra oder das Hammam, das arabische Bad, in Granada.“ nicke ich zustimmend. „In seiner Blütezeit florierte in Al-Andalus vor allem der Handel mit Seide und Leinen. Und nicht zu vergessen: Cordoba, die Hauptstadt von Al-Andalus, war damals die größte und wohlhabendste Stadt in Europa, in der Muslimen mit Juden und Christen friedlich zusammenlebten. In Al-Andalus konnten daher Gelehrte wie Averroes oder Albucasis die Werke von Aristoteles, Platon, Galenos und vielen anderen römischen und griechischen Autoren studieren und die darin dargestellten Lehren kommentieren. Da die Herrscher in Cordoba diese handschriftlichen Manuskripte in großem Umfang sammelten, genossen die Bibliotheken von Al-Andalus einen ausgezeichneten Ruf. Gelehrte aus ganz Europa kamen damals nach Al-Andalus, um lateinische Übersetzungen arabischer Abhandlungen anzufertigen, die später in den Hörsälen sämtlicher Universitäten in Europa diskutiert wurden. Auf diese Weise haben die Gelehrten von Al-Andalus die intellektuelle Entwicklung in Europa im Bereich Mathematik, Physik, Chemie und Medizin entscheidend bereichert.“ „Das ist schon außerordentlich spannend.“ stimme ich ihr zu. „Ich habe mich in Andalusien, der Heimat meiner Großeltern, sehr wohl gefühlt und kann mir auch vorstellen, da meinen Lebensabend zu verbringen.“ „Ja, warum nicht. Es ist das ganze Jahr über angenehm warm. Landschaftlich ist Andalusien recht abwechslungsreich. Man kann Wanderungen in den Bergen der Sierra Nevada unternehmen oder sich an den herrlichen Stränden an der Küste Andalusiens in der Sonne aalen. Und das Wichtigste dabei: der Weg zur nächsten Tapas-Bar ist niemals weit.“
Kapitel 10
10. Le Bousquet d'Orb – St.-Gervais-sur-Mare: Segelregatta am Küchentisch
Als ich mich am nächsten Morgen an den Frühstückstisch setze, schlägt mir bereits der aromatische Geruch von schwarzem Tee und frisch gebackenem Vollkornbrot entgegen. Die Duftwolke, die ich tief in mich aufsauge, weckt die letzten Lebensgeister aus ihrem Dämmerzustand. Francine kommt mit ihrem Wuschelkopf aus der Küche. „Bonjour!“ „Bonjour! Wie hast du geschlafen?“ „Ja, ganz gut, danke.“ Ich schenke mir den heiß dampfenden Tee in die Tasse. „Wandern wird ja immer beliebter.“ erklärt Francine, während ich Feigenkonfitüre auf eine Scheibe Vollkornbrot schmiere. „Einige sind nur noch auf Wanderung, ihr ganzes Leben lang.“ „Vor ein paar Jahren hatte ich ein älteres Paar, beide schon über 70 Jahre alt, zu Gast. Kurz nach ihrer Hochzeit sind die beiden zu Fuß in Kalifornien aufgebrochen, haben den gesamten Mittleren Westen bis zur Ostküste durchwandert. In Boston haben sie dann ein Flugzeug nach Lissabon genommen, um dort ihre Wanderung fortzusetzen. Nachdem sie die Pyrenäen überquert hatten, sind sie dann auch in Le Bousquet d'Orb vorbeigekommen. Und die beiden wollten bis nach Jerusalem weiterwandern.“ „Kaum zu glauben.“ schüttele ich erstaunt mit dem Kopf. „Das Vollkornbrot schmeckt übrigens sehr lecker!“ „Das habe ich selbst gebacken. Mit Vollkornmehl aus dem Bioladen.“ „Sehr gut! Auch die Feigenkonfitüre hat einen ausgezeichneten Geschmack.“ „Und dann hatte ich einmal einen chilenischen Soldaten zu Gast. Ein großer, kräftiger Mann.“ nimmt Francine den Faden wieder auf und deutet mit ihren Händen die kräftige Gestalt des Soldaten an. „Der wanderte in seinem Urlaub auf der Via Tolosana und legte dabei täglich Etappen von 40 bis 50 Kilometer zurück. Auf dem Rücken trug er dabei einen 40 kg schweren Rucksack. Den konnte ich noch nicht einmal aufheben.“ „Wenn man in einem körperlich guten Zustand ist und gewohnt ist, sich mit schwerem Marschgepäck im Gelände zu bewegen, ist das durchaus vorstellbar.“ erwidere ich. „Aber auf jeden Fall eine beeindruckende Leistung!“ „Hast du den Kinofilm „In the wilderness“ gesehen?“ fragt Francine, während ich den heißen Tee schlürfe. „Nein.“ erwidere ich. „Ein junger Mann macht sich auf, lässt alles hinter sich zurück, um in der Wildnis Alaskas zu leben.“ „Nein, den Kinofilm kenne ich nicht. Aber ich habe einmal im Fernsehen eine Dokumentation über einen jungen Mann gesehen, der ein Leben in der Wildnis führen wollte, dort aber nicht genügend Nahrung gefunden hat und am Ende in einer alten Karosse verhungert ist. Erst Monate später haben dann Jäger seine Leiche aufgefunden.“ „Das war kein Wagen, sondern ein ausrangierter Linienbus.“ korrigiert mich Francine. „Auf der Suche nach Abenteuer und einem selbstbestimmten Leben in der Natur hat der junge Mann mitten im Winter in diesem ausrangierten Linienbus sein Lager aufgeschlagen. Nur mit einem Jagdgewehr ausgestattet, ist er in der rauhen Wildnis auf Pirsch gegangen. Einmal ist es dem jungen Mann sogar gelungen, einen Elch zu erlegen. Als er aber den Elch gerade ausweiden wollte, ist ein Wolfsrudel über seine Jagdbeute hergefallen. Daher musste er sich vor allem von Früchten und Kräutern ernähren, die er in der Wildnis gesammelt hat.“ erklärt Francine. „Im Frühling war der junge Mann – aufgrund des Tauwetters – aber nicht mehr in der Lage, den angeschwollenen Fluss zu überqueren und war somit in der Wildnis gefangen. Deshalb hat er sich erneut in den Linienbus zurückgezogen.“ „Ja, stimmt. Ich glaube, wir sprechen tatsächlich von derselben Geschichte.“ erwidere ich leicht überrascht, während ich trockene Feigen und Aprikosen in das Müsli mische. „In the wilderness.“ Als ich dann Müsli mampfe, fragt Francine mich plötzlich nach dem Créanciale. „Ach, das hätte ich beinahe vergessen!“ Mit einem flinken Griff in die Seitentasche des Rucksacks, der bereits in der Nähe des Frühstückstisches steht, ziehe ich das Créanciale hervor. Francine holt unterdessen einen Stift aus der Schublade, um auf die Schnelle eine kleine Zeichnung für das Créanciale anzufertigen. Mit geübten Strichen skizziert Francine einen Wanderer, der – mit Wanderstab und Rucksack ausgestattet – in Begleitung eines Hundes unterwegs ist. „Merci bien!“ Nach dem reichhaltigen Frühstück muss ich schließlich aufbrechen, wenn ich den heutigen Etappenort St.-Gervais-sur-Mare noch bei Tageslicht erreichen möchte. „Bonne route!“ „Merci bien! Au revoir!“
Gleich am Ortsrand geht es auf unwegsamen Wanderpfaden steil aufwärts durch einen Kastanienwald. Obwohl ich nur mit kleinen Schritten langsam in die Höhe steige, gerate ich schon bald ins Schwitzen. Vielleicht macht mir bereits die dünne Höhenluft zu schaffen, auf jeden Fall atme ich schwer, während ich mich in Richtung Gebirgskamm kämpfe. Nach einem beschwerlichen Aufstieg erreiche ich schließlich am Bergrücken den Waldrand und kann auf eine – fast unberührte – bewaldete Bergwelt blicken. An einem dieser Berghänge steht eine Reihe von Windkraftanlagen, deren Rotorenblätter sich sanft im Wind drehen. Auf dem Mont Meguillou, fast direkt gegenüber, ragt der Tour de Guet, ein Wachturm der Feuerwehr, hoch über die Baumwipfel des Mischwaldes hinaus. Der GR 653 führt mich bergab bis zu einem Picknickplatz am Col de Clares. Von dort geht es auf einem Forstweg Richtung Col de Peyrenale und Col Liovrel, wo ich unbeabsichtigt ein Reh aufschrecke, das sich bergauf in das Dickicht des Bergwaldes flüchtet. Wenig später erreiche ich eine Aussichtsplattform, die einen hervorragenden Ausblick auf die kargen Bergflanken bietet, auf denen sich die Schatten der rasch vorbeiziehenden Wolken abzeichnen. Bei kühler Brise, die Jacke habe ich mir bereits übergezogen, steige ich hinauf zum Col de Sevies. Kurz vor dem Gipfel, an einem gegenüberliegenden Bergkamm, fallen mir erneut einige Windräder auf, die sich dort bei heftigen Böen schnell im Wind drehen. Auf einem steil ansteigenden Forstweg erreiche ich schließlich den höchsten, wenngleich wenig spektakulären Punkt der Etappe. Von dort führt die Via Tolosana auf verschwiegenen Forstwegen talwärts. Als ich auf die Landstraße D163 stoße, biege ich nach rechts ab, aber schon hundert Meter später schwenke ich wieder nach links, auf eine Graspiste in Richtung Col de Lairac. Während ich auf einer Schotterpiste in Serpentinen hinunter zu einer Zisterne steige, spüre ich langsam Hunger und Müdigkeit in mir aufsteigen. Auf der anschließenden steinigen Piste muss ich höllisch aufpassen, mit dem Rucksack, dessen Riemen schmerzhaft auf die Schulterknochen drücken, das Gleichgewicht zu behalten. Auf lockerem Geröll hopse ich von Stein zu Stein, bis ich nach einer gefühlten Ewigkeit in das Dorf Mècle gelange. Zwischen den traditionellen Steinhäusern tollen junge Hunde übermütig herum, während eine alte Frau gebeugt über den Brunnenplatz schleicht. Nach einem Schluck vom kalten Brunnenwasser raffe ich mich zum letzten Streckenabschnitt nach St.-Gervais-sur-Mare auf. Auf einem Trampelpfad marschiere ich durch einen jungen Wald, bevor ich in der Nähe der Ruinen des Clocher de Neyran, mit schwerem Rucksack, den abschüssigen Pfad ins Tal hinabschwanke. Am späten Nachmittag schließlich überquere ich die Steinbrücke über den Fluss Mare und betrete damit die ehemalige Bergbau-Siedlung St.-Gervais-sur-Mare.
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