In den Gassen der Altstadt von Lodève herrscht geschäftiges Treiben. Mitten im Zentrum ragt der Glockenturm der ehemaligen Kathedrale St. Fulcran empor. Bei einem Rundgang durch die Altstadt von Lodève fällt mir der Stadtpalast Fleury ins Auge, das Geburtshaus von Kardinal Fleury, der während der Herrschaft von Louis XIV. als Almosenverwalter und später als Lehrer und Berater von Louis XV. beträchtlichen Einfluss am Hofe von Versailles ausübte. In der Nähe der Kathedrale St. Fulcran finde ich bald eine Unterkunft, in der ich den Rucksack erleichtert zu Boden plumpsen lasse. Nach einer Verschnaufpause suche ich in der Altstadt ein Bistro auf, in dem ich den Abend bei einem Glas Rotwein ausklingen lasse, wobei mir die Textzeile „Pourquoi ont-ils tué Jaurès? von Jacques Brel immer wieder im Ohr herumsummt.
Kapitel 9
9. Lodève – Le Bousquet d'Orb: Siesta in einstiger Bergbau-Siedlung
Beim Frühstück entscheide ich mich spontan dazu, auf der heutigen Etappe – nach den körperlichen Strapazen der letzten Tage – den direkten Weg über den Col de la Baraque einzuschlagen. In der Altstadt laufe ich noch einmal am Stadtpalast Fleury vorbei und werfe einen Blick auf den Glockenturm der einstigen Kathedrale Saint-Fulcran, dann verlasse ich Lodève auf einer Ausfallstraße. Gemütlich wandere ich am Rande der Landstraße D35 hinauf zum Col de la Baraque. während die Sonne meinen Rücken angenehm wärmt. Auf halber Strecke zur Passhöhe bleibt plötzlich ein Kurierfahrzeug vor mir auf der rechten Fahrbahn stehen. Als ich das Fahrzeug passiere, beugt sich der Fahrer, ein junger Mann, aus dem geöffneten Seitenfenster: „Wenn du willst, kann ich dich ein ein kurzes Stück mitnehmen.“ schlägt er mir vor und öffnet die Seitentür. „Merci bien!“ „Wohin willst du denn?“ fragt er mich, als ich in den Wagen einsteige. „Nach Lunas.“ „Dann kann ich dich bis zum Col de la Baraque mitnehmen.“ lächelt er mir freundlich zu. „Was machst du denn?“ fragt er mich. „Ich wandere auf dem Grande Randonné 653 von Arles zum Col du Somport in den Pyrenäen.“ „Zu Fuß?“ fragt er ungläubig. „Ja, zu Fuß.“ „Aber du bist nicht die ganze Zeit per Anhalter unterwegs?“ bohrt er nach. „Nein, zu Fuß.“ Er schüttelt erstaunt mit dem Kopf. „Vor zwei Wochen habe ich die Wanderung in Arles aufgenommen, habe die Camargue durchquert, dann Montpellier besucht ...“ „Montpellier,“ unterbricht er mich erfreut „da komme ich her.“ „Montpellier ist eine wunderschöne Stadt mit mediterranem Flair. Auf den Straßen und Plätzen wachsen überall Palmen in den Himmel. Montpellier hat mir sehr gut gefallen!“ stimme ich ihm zu. „Ja, ja!“ strahlt der junge Mann vor Freude. „Von Montpellier führt der GR 653 über die Ausläufer der Cevennen nach Castres, dann an der Rigole de la Plaine entlang zum Canal de Midi in Richtung Toulouse, und zum Abschluss führt der GR 653 nach Pau und zum Col du Somport in den Pyrenäen.“ Nach kurzweiliger Fahrtzeit ist die Passhöhe am Col de la Baraque bereits fast erreicht. Da stellt sich der sympathische junge Mann mit Handschlag vor und fügt stolz hinzu: „Ich komme aus Marokko!“ Kurz darauf stoppt er seinen Wagen und lässt mich auf der Passhöhe aussteigen, nicht ohne mir vorher noch Bananen und eine Getränkedose in die Hand zu drücken. „Merci bien! Bonne journée!“ „Bonne route!“ Winkend verabschiede ich mich von dem Kurierfahrer, der mit seinem Transporter seine Route fortsetzt.
Auf der windigen Passhöhe des Col de la Baraque blicke ich in ein langgestrecktes, abschüssiges, enges Tal. Während auf der einen Seite des Tales ein dichter Wald bis an die Landstraße D35 drängt, haben Bauern auf dem gegenüberliegenden Berghang in früheren Zeiten Terrassenfelder angelegt, wenngleich ich nicht erkennen kann, dass die Terrassen heutzutage noch landwirtschaftlich genutzt werden. Am Rande der Landstraße D35 setze ich, nachdem ich den vollgestopften Rucksack wieder aufgesetzt habe, die Etappe fort. In gemütlichem Tempo laufe ich die kurvige Landstraße D35 talabwärts und verspeise dabei das Proviant, das mir der nette Kurierfahrer großzügig mit auf den Weg gegeben hat. Nur ab und zu wird die Ruhe durch ein vorbeibrausendes Auto gestört. Allerdings beginnt sich die Strecke nach Lunas gewaltig in die Länge zu ziehen. Bald schon glaube ich bei jeder Kurve, die hinter einem Berghang verschwindet, das Dorf beinahe erreicht zu haben. Doch dann muss ich jedes Mal von Neuem enttäuscht feststellen, dass die Landstraße D35 noch weiter in das Tal hinabführt. Dann, gegen Mittag, nach einem scheinbar unendlich langen Abstieg, erreiche ich endlich Lunas. Auf der Steinbank des Rathauses, das unmittelbar an der Brücke über den Gravazon liegt, lege ich eine Rast ein. Ich fühle mich schlaff und erschöpft, obwohl die Etappe bislang – auch dank der Mitfahrt im Kurierfahrzeug – vom Streckenprofil her wenig anspruchsvoll gewesen ist.
Nach der Erholungspause lege ich das letzte Teilstück nach Le Bousquet d'Orb, das wenige Kilometer flussabwärts in der Talebene liegt, zurück. Nach nicht einmal einer Stunde überquere ich auf einer Brücke den Fluss Orb und erreiche das Dorf Le Bousquet d'Orb, eine ehemalige Bergbau-Siedlung. Nach längerer Suche finde ich in dann auch im hintersten Winkel des Dorfes eine gemütliche Herberge. Bei meiner Ankunft jätetet die Gastgeberin, eine Frau mit struppeliger, grauer Haarpracht, mit grüner Gartenschürze, gerade in ihrem Garten. „Bonsoir!“ Sie lugt über ihre Brille und heißt mich in ihrem Haus willkommen. Erleichtert setze ich zunächst einmal den Rucksack ab. Francine, so heißt die Gastgeberin, hat gerade eine mehrmonatigen Reise nach Norwegen unternommen, um nach dem Tod ihrer Mutter, mit der sie lange gemeinsam zusammengewohnt hatte, wieder zur Ruhe zu kommen. Erst vor ein paar Tage ist sie nach Hause zurückgekehrt. Freundlich lächelnd erzählt sie von den noch frischen Reiseeindrücken, von der norwegischen Hauptstadt Oslo, den Fährfahrten über einsame Fjorde, Rentierherden am nördlichen Polarkreis, den rauhen Lofoteninseln und der historischen Altstadt von Bergen. Als ich dann im gemütlich dekorierten Gästezimmer meinen Rucksack ablege, bewundere ich einige sehenswerten Gemälde an den Wänden, die – wie ich aus dem Gästebuch entnehmen kann – Francine persönlich angefertigt hat.
Später – nach einer kleinen Ruhepause – komme ich ins Wohnzimmer, das neben einem runden Esstisch in der Mitte mit einigen gut gefüllten Bücherregalen und einer Couch ausgestattet ist. An den Fenstern stehen einigen Zimmerpflanzen auf dem Fußboden und die Wände sind mit Gemälden von Francine geschmückt. „Mein Großvater stammte aus Andalusien.“ erzählt Francine „In jungen Jahren hat er seine Frau entführt ...“ „Entführt?“ frage ich entgeistert. „Ja, tatsächlich entführt.“ bestätigt sie. „Die Eltern meiner Großmutter wollten die Beziehung zu meinem Großvater nicht akzeptieren. Daher sind die beiden aus ihrer andalusischen Heimat nach Barcelona geflüchtet und haben dort geheiratet. In Barcelona ist mein Großvater jedoch bald an einer Atemwegserkrankung erkrankt.“ Ich nicke höflich. „Barcelona war damals eine dreckige Industriestadt, in der die Fabrikschlote die Luft unablässig mit Rauchabgasen verpestet haben.“ fügt Francine hinzu. „Aufgrund der starken Luftverschmutzung in Barcelona hat ihm sein Arzt dringend angeraten, in eine Gegend mit besserer Luftqualität zu ziehen. Da Verwandte meiner Großeltern bereits hier ansässig waren, entschieden sie sich letztlich dazu, in die Region Languedoc-Roussillon zu ziehen.“ Die Hauskatze schleicht auf sanften Pfoten durch das Wohnzimmer. „Mein Vater war ein echter aficionado! Als passionierter Stierkampf-Liebhaber hat er die Stierkämpfe immer mit großer Begeisterung verfolgt, entweder am Fernsehen oder in der Arena.“ erinnert sich Francine. „Einmal habe ich ihn zu einem Stierkampf begleitet, aber ich konnte es nicht ertragen, wenn ein Stier verletzt wurde.“ „In der Camargue erfreut sich der Stierkampf ja auch großer Beliebtheit.“ werfe ich ein. „Fast alle Städte und Dörfer, durch die ich dort gelaufen bin, haben eine Stierkampfarena, in der im Sommer traditionelle Stierkämpfe veranstaltet werden.“ „Die Stierkämpfe in der Camargue unterscheiden sich aber von den Stierkämpfen in Andalusien. Bei der Corrida tötet der Torero – mit Hilfe der Picadores und Bandarilleros – den Stier auf jeden Fall am Ende des Stierkampfes. Bei dem in der Camargue praktizierten Stierkampf, dem Course Camarguaise, kommt es hingegen darauf an, dem Stier eine Kokarde, die zuvor zwischen seinen Hörnern befestigt wurde, zu entreißen. Innerhalb einer Viertelstunde müssen die Raseteurs die Kokarde erobern, andernfalls verlässt der Stier als Sieger die Arena.“ erklärt mir Francine. „Wobei man auch sagen muss, dass die Corrida überhaupt nicht mehr so populär ist, viele Stierkampfarenen kämpfen schon seit Jahren mit sinkenden Zuschauerzahlen. Und in Katalonien ist der Stierkampf sogar mittlerweile gesetzlich verboten.“
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