Seine Worte lösen einen betroffenen Unmut in mir aus. Also bleibt mir jeglicher Weg zu Carolin versperrt, weil sie mich offensichtlich nicht in ihr Leben wünscht, so sehr ich es auch möchte. Dafür hat sie immer noch den Anteil Kurt Gräbler in sich, der sie in seinem Sinne manipulieren kann.
Meine Wut richtet sich auf ihn und gibt mir das eine vor, was in meiner Gefühlswelt seltsam heftig regiert. „Lass sie bloß in Ruhe. Sie gehört mir! Du fuschst nicht mehr in ihrem Leben herum, hörst du! Oder …“
„Tim, wir sind hier in einer Welt, wo es kein „oder“ gibt. Du kannst mir nicht drohen. Es gibt hier nichts, das Bedrohlich sein kann. Du hast nichts außer deiner Wut auf mich … und die macht mir nichts, wenn ich sie nicht an mich heranlasse. Gar nichts!“
Ich sehe mich aufgebracht nach dem kleinen Mann um und kann ihn doch nicht ausmachen. „Dann versteck dich nicht, du Feigling“, knurre ich, als es in mir lacht und mir Kurt Gräbler zu verstehen gibt: „Wir haben hier nichts als unsere Gefühle. Wir müssen uns nicht mal verstecken. Was wir fühlen, sind wir und wo wir sein wollen, da sind wir. Das machen unsere Schwingungen aus, die uns führen und leiten. Nichts anderes. Du kannst mich weder angreifen noch schlagen. Nichts kannst du noch! Gar nichts!“
In mir schallt das zornige Lachen von ihm wieder, bis es in dem Nebel versiecht.
Ich bin wieder allein und schwermütige Traurigkeit legt sich über mich.
„Carolin, warum hast du mir das angetan? Komm zu mir! Bitte, komm zu mir!“
Und dann spüre ich sie. Tief in mir. Es ist wieder das weiße Zimmer und sie liegt auf dem Bett und sieht mich an. Und ich sehe ihre Fesseln und spüre ihre Ohnmacht. Sie kann nichts gegen mich tun.
Genauso, wie ich hier in dieser Welt auch nichts mehr gegen das tun kann, was mir passiert und was mich in meiner Seele angreift. Ich habe sie verletzt, und sie hat sich dafür gerecht. Ich hatte ihr in dem Zimmer gesagt: „Und jetzt gehörst du mir. Jede Faser und jede Zelle … jeder Zentimeter von dir, und ich schwöre dir, machst du mir Stress, dann werde ich dir wehtun. Mittlerweile wird mir das schon genauso eine gewisse Befriedigung geben, wie dich zu lieben. Du hast mich schon so oft so abgrundtief verletzt, dass es eine Genugtuung für mich sein wird.“
Ich hatte ihr damit genauso meine Boshaftigkeit und meinen Eigensinn entgegengeschleudert, wie Kurt es gerade bei mir getan hat. Und ich fühle die Ohnmacht, die ich damit über sie legte, genauso, wie ich mich jetzt hier ohnmächtig fühle.
Aber ich habe sie befreit! Ich nahm ihr die Fesseln wieder ab!
Und wer befreit mich? Wer hilft mir aus dieser Welt heraus, aus der es offensichtlich kein Entrinnen gibt?
Unendlich traurig und bedrückt sinke ich in den grauen Nebel und lasse mich von der schwarzen Masse einschließen.
Ich kann einen Moment nicht verstehen, was geschehen ist. Erik klang viel zu aufgeregt, als dass es ein Scherz sein kann.
Er sagte, Carolin liegt im Krankenhaus. Er bat vollkommen aufgelöst darum, dass unsere Eltern schnell kommen sollen, um nach ihr zu sehen, weil niemand ihn zu ihr lässt. Sie glauben ihm offenbar nicht, dass er Carolins Verlobter ist. Völlig verrückt. Und er klang so fertig, als wenn Carolin sterben könnte. Aber das kann nicht sein!
Ich rufe meinen Vater an, weil ich mir denke, er bleibt bei allem besonnener. Mamas hysterischen Art bin ich im Moment nicht gewachsen.
Es dauert, bis Papa abnimmt.
„Papa, es ist was passiert!“, rufe ich aufgebracht. „Erik rief mich eben an. Carolin hatte einen Unfall und liegt im Krankenhaus. Ihr müsst sofort hinfahren, weil keiner Erik zu ihr lässt … wegen Verwandtschaft oder so.“ In meinem Kopf überschlägt sich alles. Aber ich bringe es nicht über mich, ihnen noch mehr zu sagen. Das schaffe ich nicht, weil mir dann mein Anteil an Schuld zu sehr ins Bewusstsein rückt. Warum habe ich Tim nicht energischer aufgehalten? Ich wusste doch, dass er völlig durchgeknallt ist. Und jetzt?
Erik hatte außerdem gesagt, dass Tim tot ist.
Erst jetzt kommt das ganze Ausmaß dieses Unfalls bei mir an.
TIM IST TOT!
Langsam begreife ich, warum Erik so am Ende ist und so klang, als glaube er, dass Carolin auch stirbt. Es war ein schwerer Unfall mit einem Toten. Dass Carolin überhaupt noch lebt ist wahrscheinlich ein Wunder. Und genauso klang Erik. Als rechne er immer noch mit dem Schlimmsten.
„Oh mein Gott! Wo liegt sie und was ist passiert?“, ruft mein Vater fassungslos.
Ich höre im Hintergrund das Kreischen von Sägen und Hammerschlägen. Er ist in der Arbeit.
„Sie hatte einen Autounfall und liegt in einem Krankenhaus bei Clausthal. Das ist irgendwo im Harz.“
„Was?“
„Ich weiß auch nichts Genaues. Aber es geht ihr angeblich wirklich schlecht. Bitte, könnt ihr da so schnell wie möglich hinfahren?“
Mein Vater scheint selbst wie erstarrt zu sein und zischt dann aufgebracht: „Sicher. Ich muss das eben hier klären, hole deine Mutter und fahre hin. Aber …“ Mein Vater schluchzt plötzlich seltsam auf und seine Stimme klingt zittrig. „Gib mir Eriks Nummer. Ich rufe ihn selbst an.“
„Ich schicke sie dir. Ich kann hier nicht weg, aber wenn ihr mehr wisst, ruft mich bitte an“, sage ich und weiß, mein Vater wird nicht verstehen, warum ich nicht alles stehen und liegen lasse, um mitzufahren. Aber er weiß schließlich auch nicht was läuft.
„Ja. Ja sicher“, stammelt mein Vater und legt auf.
Ich weiß, er ist völlig am Ende. Carolin ist seine Tochter. Sein einziges biologisches Kind. Mich hat er nur mitgeheiratet. Das sagten sie mir und Carolin aber erst vor ein paar Monaten … und auch, dass mein richtiger Vater noch lebt. Niklas dachte immer, mein biologischer Vater wäre tot. Aber er hatte meine Mutter nur schwanger hängengelassen, die Niclas daraufhin auftischte, dass ihr damaliger Lover Markus gestorben sei.
Ich gehe auf die Nummer von Erik und schicke sie an meinen Vater weiter.
Benommen lasse ich mich auf die Treppenstufen im Gang der Uni fallen. Ich wollte nur eine Vorlesung mitnehmen und mir damit einige Stunden Freizeit herausschinden. Aber nun weiß ich, ich muss ins Labor zurück.
Ich erhebe mich schwerfällig und seltsam innerlich gelähmt. Was geschehen ist will immer noch nicht meinen Kopf erreichen und ich bin über dieses hohle Gefühl in mir etwas erschrocken. Wahrscheinlich ist das der Schock.
Langsam gehe ich zum Ausgang und beschließe, zum Haus zu fahren und alle zusammenzutrommeln. Dann werde ich ihnen das Unfassbare mitteilen. Tim ist tot.
Ist damit die Weissagung der alchemistischen Freidenker vom Tisch?
Ich weiß es nicht. Ich weiß gar nichts mehr und langsam öffnet sich in mir das erschreckende Gefühl, dass Carolin auch bald tot sein könnte. Fassungslos putze ich mir eine Träne von der Wange und steige in mein Auto.
Warum habe ich Tim nicht aufgehalten? Warum haben SIE Tim nicht aufgehalten?
Ich fahre durch die Stadt und versuche meine Gefühle dazu zu analysieren, die um Tims Tod kreisen. Aber da ist nicht viel. Ich mochte den Typ nie besonders, auch wenn er mein Halbbruder ist. Ich weiß auch nicht viel von ihm. Er war Pianist und wohl ziemlich bekannt, und er war das zweite uneheliche Kind von meinem Vater, und er zog von Wolfsburg hierher, um sich an meine Schwester heranzumachen. Angeblich wegen Kurt Gräbler in ihm.
Das dieser alchemistische Vorfahre mich lenkt, seit ich denken kann, war für mich etwas ganz Natürliches. Ich kannte es nie anders. Und dass er auch in Carolin wütet, erkannte ich schon sehr früh, als sie als Kleinkind Dinge aus dessen Leben träumte.
Meine Eltern schnallten nichts. Ich aber. Ich wusste, was mit uns los war. Bloß mein Aussetzer war falsch. Da hatte mich irgendetwas seltsam fehlgeleitet. Oder es war gar nicht falsch, weil Tims Tod schon in den Arsenalen der Welt geschrieben stand. Vielleicht hätte ich die beiden wirklich da schon töten sollen?
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