Tatsächlich wird der kleine Mann von meiner Seite gezogen und verschwindet im Nebel. Aber ich spüre seinen Unmut darüber und mir drängt sich langsam die Einsicht auf, dass ich niemanden ertragen muss, wenn ich das nicht will und keiner mich ertragen muss, wenn er es nicht will. Deshalb kann Kurt Gräbler mich nicht nach Belieben nerven und ich nicht bei Carolin bleiben, wenn sie das nicht zulässt.
Es ist still um mich herum und ich spüre meine Wut langsam verrauchen und eine unglaubliche Schwermut mich ergreifen. Ich bin allein, aber ich will nicht allein sein.
„Vertrau mir. Ich kenne mich hier aus“, murmelt es neben mir unterwürfig. „Solche wie wir sind hier ewig Zuhause. Wir können kein materielles Leben führen und müssen an diesem Ort, der zwischen den Welten liegt, bleiben.“
Ich sehe auf und suche nach dem kleinen Mann, der erneut seine Gefühle über mich ausbreitet. Traurig und resigniert. Aber um mich ist nur dunkler, wabernder Nebel. So dunkel, wie ich mich fühle.
Erneut raunt er in mir: „Als man mir mein materielles Leben nahm, dachte ich, ich könnte dem Unvermeidlichen entkommen. Ich hatte so viele Jahre damit verbracht, dieses Mittel zu erschaffen und doch machte es mich nicht unsterblich, sondern zu einem Geist ohne Wiederkehr. Es war ein fataler Fehler, dem Tod entrinnen zu wollen. Aber wenn wir in den materiellen Welten ein Leben führen, dann wissen wir nichts von unserer wahren Bestimmung und was wir wollten. Dieses Wissen wird uns beim Übertritt genommen, um uns eine Anpassung an das Leben auf einem Planeten und in der vorherrschenden Lebensweise möglich zu machen. Das Leben in einem der Lebewesen lässt uns Wissen erfahren, dass wir auf keine andere Art in diesem Maße erfahren würden. Sie machen unser Dasein aufregend und lassen uns Facetten von Emotionen und Sichtweisen erfahren, wie sonst nichts. Und indem wir das Wissen der Kreaturen in den materiellen Welten voranbringen, erschaffen wir auch weiteres Wissen für uns. Ich war als junger Mensch offen für alles und freier in meinem Denken, als viele andere und geriet an einen Meister der Alchemie und seiner Unsterblichkeitstheorie. Das öffnete in mir unwissentlich Fenster aus anderen Leben von mir, in denen ich mich schon der Wissenschaft in verschiedenen Gebieten verschrieben hatte. Ich war schon einige Leben lang ein Mensch. Aber diesmal wollte ich Großes vollbringen und der Menschheit die Freiheit vor dem Tod bringen. Aber man bremste mich aus und nahm mir dieses Leben, bevor ich es schaffte. Und man strafte mich für meinen Eigensinn, indem man mich in diese Welt verbannte. Aber ich fand einen Weg, um mich aus dieser Verbannung zu befreien und wieder eine ganze Seele zu werden. Ich musste mich dazu nur an meine Nachkommen hängen und sie dazu bringen, in der materiellen Welt meine Seelenanteile zusammenzuführen. Und mit dir, Carolin und Julian war ich meiner Heilung schon ganz nah. BIS IHR ES VERSAUT HABT!“
Ich bin seltsam betroffen von dem, was sich mir da offenbart, auch wenn es immer mehr zu etwas wird, das sich als Erkenntnis in meinem Inneren ausbreitet. Es ist wie ein verlorenes Wissen, das wieder an die Oberfläche dringt - wie eine Erinnerung. Doch diese Erkenntnis wird von etwas überlagert, das mich einerseits verstört und andererseits eine Hoffnung in mir aufkeimen lässt, die sich alles beherrschend auf mich legt. Eine Hoffnung, mich auch an jemanden hängen zu können, um ihm wieder ganz nah zu sein.
„Wie konntest du dich an uns hängen?“
„Wenn eine Seele ein neues Leben beginnen möchte, dann überschreitet sie zwei Grenzen. Die eine ist der Tod in der einen Welt und die andere die Widergeburt in der anderen. Man stirbt in einer Dimension, geht hier durch diese Astralwelt und wird in der anderen Dimension wiedergeboren. Egal, ob man aus dem Jenseits in eine materielle Welt wechselt oder von ihr in das Jenseits. Es ist immer so. Und die Astralwelt dient nur dazu, sich entweder auf die Materialisierung vorzubereiten und den Geist vollständig zu entleeren oder andersherum, wenn man in das Jenseits eintreten will, verliert man dort die starke materielle Bindung und lernt Emotionen zuzulassen, die als einziges und bedeutungsvollstes Werkzeug in den jenseitigen Dimensionen fungiert. Aber mir ist der Weg in alle anderen Dimensionen versperrt. Nur eine intakte Seele kann zwischen ihnen wandeln. Meine zerbrach aber in mehrere Teile und verstreute sich in dieser Zwischendimension. Und diese Teile können nur zusammengeführt werden, wenn sie in der materiellen Welt von einer Mutter oder einem Vater auf deren Kind übertragen werden. Aber dazu müssen die Seelenteile erst einmal in die materielle Welt gelangen und alle zeitnah, um eine Zusammenführung überhaupt zu ermöglichen. Außerdem müssen sie auch noch Blutsverwandte von der Seele sein, damit die Seelenanteile nicht als Fremdkörper unterdrückt werden und somit die Seele weder eine Zusammenführung steuern kann noch in das neue Kind überzuwechseln schafft.“ Die verkrüppelte Gestalt vor mir überschüttet mich erneut mit einer tiefgreifenden Resignation. „Mit dir, Carolin und Julian hatte ich alle meine Seelenanteile endlich zusammen und zur gleichen Zeit in der materiellen Welt, und ihr alle drei wart meine Nachkommen. Schon die Generationen vor euch hatte ich dahingehend manipuliert, damit nur noch diese drei Seelenanteile übrig waren. Es hätte alles so gut laufen können. Alles war perfekt!“
In mir drängt bei seinen Worten eine Erinnerung hoch. „Das stimmt nicht. Julian war wegen dir völlig durchgeknallt und meinte, selbst Alchemist genug zu sein, um uns töten zu können und unsere Teile in sich zu vereinen.“ Die bloße Erinnerung daran, wie Julian mich zusammenschlug und Carolin mit dem Messer in den Hals schnitt, lässt mich erbost aufbrummen: „Er hat Carolin fast getötet und nur wegen seinem brutalen Übergriff hat sie sich an Marcel gehängt.“
„Ich hätte ihm nicht so viel meines alchemistischen Wissens geben dürfen, dann wäre er nicht so fehlgeleitet worden. Aber jetzt bin ich auch nicht besser dran. Du bist hier und Carolin hängt sich an andere Kerle, statt an Julian“, heult die Stimme auf. „Es ist erneut eine Chance verspielt, weil Carolin sich nie fügen will.“
Ich spüre seinen Frust, der mich umspült. Es schmerzt mich, wenn ich das Gefühl an Carolin zulasse und in mir zischt Kurt: „Und nun ist alles zerstört. Sie hat alles zerstört und mich wieder in diese Dimension zurückgestoßen und dir das materielle Leben genommen. Du hast allen Grund wütend zu sein und sie damit nicht durchkommen zu lassen. Es war nicht richtig von ihr, dich jetzt schon dem Tod zu übergeben. Es wird ewig dauern, bis ich mich wieder an jemanden hängen kann und eine erneute Chance bekomme.“
Er hat recht. Ich bin wütend. Aber immer wieder überdeckt meine Sehnsucht und Liebe zu ihr das Gefühl der Wut und lässt Traurigkeit und Hoffnungslosigkeit folgen.
„Kann ich mich irgendwie an sie hängen?“, bringe ich meine Sehnsucht zu ihr zum Ausdruck.
Ich spüre seine Überraschung über meinen Wunsch und in mir erklingt es missbilligend: „Wozu? Ich brauche dich nicht in ihr. Ich brauche dich als eigenständiges Wesen, das mit ihr agieren kann. Außerdem ist sie nicht bereit, jemanden in ihre Aura zu lassen. Das machen nur Wesen, die tieftraurig einen Tod eines geliebten Menschen nicht verkraften und ihn so sehr wieder in ihr Leben wünschen, dass er sich in ihre Aura festsetzen kann, wenn er das will. Oder solche, die immer unzufrieden und daher schwach und kränklich sind. Aber ich kann durch eine Besetzung meine Teile nicht zusammenführen und hätte somit nichts gewonnen. Ich wäre nur ein Anhängsel, das es vielleicht schafft, ihre Stimmungen und Gefühle ein bisschen zu beeinträchtigen. Mehr nicht. Aber ich brauche Macht über meine Nachkommen, um sie in meinem Sinne zusammenzuführen und ein neues Wesen zeugen zu lassen, in dem meine Teile zusammenwachsen können.“
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