„Warum willst du das? Die kommen schon klar“, murrt der Alte verständnislos.
„Was kann ich tun, damit mich jemand hört? Wie kann ich mich bemerkbar machen?“
„Gar nicht, du Trottel. Wir haben kaum Möglichkeiten, wenn wir hier gefangen sind. Aber immerhin mehr, als wenn wir in unsere Dimension zurückkehren. Von hier aus können wir wenigstens noch ein wenig in der materiellen Welt Einfluss nehmen und an ihr teilhaben.“
Ich verstehe nichts.
„Verdammt“, höre ich den Alten resigniert Seufzen. „Du bist noch so dumm! Du weißt nichts!“
Ich will gerade dagegenreden, als er erklärt: „Es dauert, bis du diese Welt wieder verstehst. Du bist noch zu sehr in der anderen gefangen und weil es dich unplanmäßig herausgehauen hat, hattest du keinerlei Vorbereitung.“
„Was für eine Vorbereitung?“
„Wenn man alt oder krank ist und sterben wird, dann versuchen sie dich auf diese Welt vorzubereiten. Aber dich hat es genauso aus dem Leben gerissen, wie mich bei meinem letzten Tod. Normalerweise wird man dann aber von seinem Hüter aufgefangen und der bringt einen weiter. Aber bei mir ging das nicht. Mein Hüter konnte damals nichts für mich tun, weil dieses elende Gebräu, das mich unsterblich machen sollte, meine Seele zerriss.“
Ich kann dem Gebrabbel des Alten nicht folgen. Aber der erklärt weiter: „Als mein Körper in der materiellen Welt starb und meine Seele mit meinem Bewusstsein und Geist in diese Welt hinüberwechselte, zerbrach sie. Darum stecke ich hier fest. Ich kann weder in unsere Dimension gebracht werden noch als vollkommenes Wesen in die materielle Welt zurückkehren, außer als Pflanze oder bestenfalls Insekt. Und bitte, dies ist wirklich keine Option für mich.“
„Aber du warst doch dort … in mir und in Carolin und …“ Ich versuche mich zu erinnern, wie wir verbunden waren und mit wem alles. Aber langsam verblasst das Bild von meinem Leben als Tim. Nur Carolin bleibt in meinem Inneren erhalten.
„Und Julian“, fügt der Alte grimmig hinzu. „Weißt du, was es mich gekostet hat, dass endlich alle meine Seelenteile gleichzeitig und in euch dreien in die materielle Welt zurückkehrten? Denn nur durch eine Wiedergeburt in meinen Nachkommen ist es möglich meine Teile wieder zusammenzuführen. Mit dir, Julian und Carolin waren alle meine Teile in ein und derselben Zeit in die materielle Welt gelangt und ihr hättet sie in euren Kindern weiter zusammenfügen können, bis meine Seele durch eine letzte Zusammenführung wieder ganz geworden wäre. Aber ihr habt das zerstört,“ schreit es mir aufgebracht entgegen.
Langsam kriecht in mir wieder ein Erinnerungsfetzen hoch. Deshalb waren Carolin und ich füreinander bestimmt. Wir sollten zusammen dieses Kind zeugen.
Ich spüre ein seltsames Gefühl, das eher Unmut gleicht, statt Freude darüber. Erst bin ich deswegen irritiert. Aber dann schiebt sich eine andere Erinnerung in mir hoch. Die an meinen Halbbruder Julian.
Er war in allem der Bevorzugte. In ihm hatte Kurt Gräbler seine alchemistischen Weisheiten auf die Erde geschickt, was mich und Carolin fast das Leben gekostet hat. Er glaubte, dass er Kurt Gräbler auferstehen lassen kann, wenn er mich und Carolin tötet und unsere Teile des Alchemisten in sich irgendwie vereint. Aber wir wurden gerettet.
Nun schießt auch die Erinnerung an Marcel in mir hoch, der uns aus Julians Wahnsinn befreite und dem Carolin daraufhin ihre ganze Liebe schenkte.
Aber Marcel war nicht der Mann, der für Carolin bestimmt war. Und Julian war es auch nicht. Für mich gab es niemanden, der an Carolins Seite sein durfte, außer mir.
In mir schieben sich weitere Erinnerungen hoch. Für uns drei gab es eine Weissagung, dass Julian mit Carolin und ich mit Carolin die Kinder zeugen sollten, die Kurt Gräbler ermöglichen würden, seine Seele wieder zu heilen. Aber für mich stand fest, dass auch Julian Carolin nicht bekommen durfte. Sie gehörte allein mir.
Mich packt eine tiefe Wehmut. Ich darf sie nicht für immer verloren haben. Das kann einfach nicht sein. Ich will zurück zu ihr und in mein altes Leben zurück.
„Bitte, wie kann ich zu Carolin zurückkehren?“
„Gar nicht!“, schreit es mir gehässig entgegen. „Du hast es versaut! Du hast nicht aufgepasst und ihre Boshaftigkeit unterschätzt. Sie war immer gegen uns gewesen und wollte nicht unterstützen, wozu sie auf der Welt war. Sie hätte doch nur diese Kinder mit dir und Julian zeugen müssen und hätte danach tun können, was sie will. Aber nein, sie musste sich gegen alles sperren.“
Nun fällt mir auch dieser Umstand wieder ein. Carolin hatte in das Lenkrad gegriffen, um das Auto von der Straße zu ziehen und mich in den Tod geschickt. Dabei liebte ich sie doch über alles! Ich hatte ihr doch meine Liebe immer wieder gezeigt!
Vor mir entsteht erneut ein weißes Zimmer mit weißen Möbeln und roten Kissen und mit einem prasselnden Kaminfeuer. Und ich sehe Carolin darin.
Als ich meine Hand nach ihr ausstrecken will, verschwimmt das Bild und ich sehe sie in einem anderen weißen Zimmer und Bett liegen.
„Carolin!“, rufe ich. Aber sie bewegt sich nicht. „CAROLIN!“, rufe ich erneut.
Sie wird unruhig und beginnt sich in dem Bett zu winden.
„Komm zu mir! Bitte …, komm!“, flehe ich. Aber sie scheint mich nicht zu hören.
Ich will sie beruhigen. Sie scheint schlecht zu träumen. Aber als ich nach ihr greife, wische ich durch sie hindurch, als wäre sie nur aus Nebel. Ich kann sie nicht anfassen. Aber meine Sehnsucht bringt mich dich an sie heran und ich möchte mich zu ihr auf das Bett legen. Doch im selben Augenblick schiebt sich eine Ablehnung wie eine Wand vor mir hoch und ich höre Carolins Worte zischen: „Tim, ich liebe dich nicht und wenn du wüsstest, was Erik in mir auslöst, dann würdest du dich schämen.“
Ich starre auf die Gestalt, die sich immer noch in ihrem Traum windet und diese Worte nicht gesagt haben kann. Das kann einfach nicht!
Aber diese Wand scheint undurchdringbar und in einem Wutanfall, der mich überkommt, will ich etwas zerstören. Aber auf was ich auch einschlage oder was ich auch wegreißen will, es bleibt wie es ist und scheint durch mich nicht berührbar zu sein. „Verdammt!“, schreie ich auf und falle im gleichen Moment in meine dunkle Nebelwelt zurück und auf den zähen Boden, der mich dunkel und weich umfängt. Ich will mich in ihm nur noch zusammenrollen und mich der Trostlosigkeit hingeben. Carolin scheint für mich verloren zu sein und ich glaube, dies nicht ertragen zu können - weder in der Welt, in der ich sie lieben konnte und sie mich nicht wollte, noch in dieser Welt. Was soll nun aus mir werden?
Ich spüre den alten Mann in mir brummen: „Tim, lass das Selbstmitleid. Wir müssen etwas tun! Meine Chance kann nicht einfach durch eure Dummheit zerstört worden sein. Dass darf nicht sein!“
„Lass mich in Ruhe. Ich habe viel mehr verloren als du. Dir wurde nur dein Leben genommen. Aber mir auch noch meine Liebe.“
„Tzzz! Liebe! SIE ist nicht tot. DU schon! Sie hat dich getötet und du faselst etwas von Liebe“, dringt es zornig bis in mein Innerstes vor und schürt auch in mir die Wut. Und ich erkenne diese Wut. Es ist die gleiche, die mich bei Eriks Anblick erfasste und die mich in der anderen Welt immer wieder fest im Griff hatte, wenn Carolin sich gegen mich und für einen anderen Kerl entschied.
„Sie hat sich erneut gegen dich gewandt. Du darfst wütend sein! Du musst wütend sein! Sie hat dich für ihn getötet!“, zischt es erneut in mir. „Sei wütend!“
Ich kauere mich in den schwarzen Nebel und will mich in diese Wut fallen lassen, die mich umschließt, wie eine große Hand.
Ich spüre augenblicklich eine Zufriedenheit, die nicht meine ist und zische zerknirscht: „Verschwinde! Lass mich in Ruhe!“
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