„Sei kein Dummkopf! Du musst zurückgehen! Los, geh zurück!“, faucht diese Stimme nun wütend und zu meiner Sehnsucht gesellt sich Wut.
Ich will fragen, wohin ich zurückgehen soll. Aber ich habe immer noch keine Stimme.
In mir tobt es mittlerweile wie ein kleiner Wirbelsturm. Ich fühle mich seltsam. Da ist diese Sehnsucht, die ich ganz klar spüre, aber auch diese Betroffenheit und Wut. Aber ich scheine keine Anbindung an meinen Körper zu haben, glaube ihn aber noch zu besitzen. Er ist irgendwie noch vorhanden, wirkt aber durchscheinend und machtlos.
Ich versuche zu ergründen, was um mich herum ist. Da muss doch was sein.
Der Nebel wird plötzlich heller und ich glaube einen winzigen Punkt, der wie eine kleine Glühbirne durch den Nebel leuchtet, ausmachen zu können.
Ich starre auf diesen Punkt und etwas in mir zieht mich dort hin. Und ich bewege mich tatsächlich. Nicht mit einem Schritt, sondern wie auf einem Fließband … ohne mich selbst anzustrengen. Und dann taucht aus dem Nebel eine Gestalt auf. Sie ist groß und von dem Nebel so durchdrungen, dass ich eigentlich nur einen riesigen Umriss wahrnehmen kann. Und sie reicht mir ihre Hand.
Ich habe keine Angst vor dieser Gestalt. Ich fühle mich zu ihr hingezogen. Irgendwie scheint sie mir vertraut zu sein.
Ich will diese mir dargebotene Hand ergreifen, als es in mir aufkreischt: „Neeiiin!“
Es ist wie eine Explosion in meinem Inneren. Ich sinke in die Knie und rolle mich zusammen, von einer plötzlichen Angst ergriffen, die mich erschüttert.
Erneut erklingt die Stimme, nun flehend. „Tim, mach das nicht! Behalt mich bei dir, bitte! Dein Leben als Tim kann noch nicht vorbei sein. Das darf nicht sein!“
Ich bin vor Angst wie gelähmt und dennoch versuche ich zu verstehen, was die Stimme meint. Und wo ist die Person dazu? Warum höre ich sie nur?
Langsam, fast wie gequält, schiebt sich etwas aus mir heraus. Es ist wie ein jämmerlich zusammengekauertes Männchen, das dunkel und klein von dem grauen Nebel fast verschluckt wird. Aber seine Arme wedeln dünn wie Seidenpapier in meine Richtung und versuchen sich an mir festzuklammern.
Ich fühle mich plötzlich seltsam allein und doch befreit. Außerdem spüre ich meine Angst nicht mehr ganz so alles zersetzend und der dunkle Umriss des Männchens sinkt vor mir in den grauen Nebel, als könne er nicht allein stehen. Doch dann rafft er sich auf und schiebt sich dicht an mich heran, wie ein Schatten.
„Tim, sieh mich an. Sieh mich mit dem Gefühl in dir an und lass es zu. Du kennst mich. Ich gehöre zu dir. Ich bin wie ein Teil von dir“, murrt es vor mir.
Ich will den Kopf schütteln, als der kleine Mann zischt: „Fühl verdammt! Fühl, wer ich bin! Du kennst mich! Ich gehöre zu dir!“
Ich will etwas antworten, kann aber nicht.
„Fühl Junge! Was spürst du, wo ich nun vor dir stehe? Was ist es?“, zischt der Alte, ohne dass sich etwas in seinem seltsam durchscheinenden Gesicht regt.
Meine Angst legt sich und langsam schiebt sich ein Erkennen durch mein Inneres.
„Jaaa“, raunt der Alte, als würde er in der warmen Sonne stehen. „Jaaa, fühl es. Wer bin ich? Fühl es!“
Ich will wieder meinen Mund aufmachen, aber da kommt nichts raus und der Alte brüllt ungehalten: „Nicht so. Fühl, verdammt! Hier können wir uns nur durch Emotionen verständigen.“ Seine Wut trifft mich wie ein Faustschlag.
In mir bäumt sich etwas auf und ich will ihn nicht mehr bei mir haben.
Augenblicklich ist alles um mich herum leer. Der Mann ist noch seicht in dem Nebel zu erahnen, aber ich habe irgendwie die Verbindung zu ihm verloren. Dafür spüre ich etwas anderes in mir hochtreiben. Es ist wieder diese Sehnsucht, gepaart mit einer Betroffenheit über etwas, das ich nicht klar benennen kann. Aber langsam lichtet sich der dunkle Nebel um mich herum und Erinnerungsfetzen drängen an die Oberfläche, lassen sich aber noch nicht greifen.
Ich versuche den kleinen, alten Mann auszumachen, der aber verschwunden zu sein scheint. Suchend wende ich mich um und plötzlich raunt der Alte neben mir: „So ist es gut. Lass mich bei dir sein. Schick mich nicht weg. Und spür deine Emotionen. Du musst das erst wieder erlernen. Das muss man immer. Also streng dich an. Wenn du mich brauchst, denk an mich. Fühl mich zu dir. Lass deine Gefühle zu. Sie werden dich leiten. Nichts anderes gibt es hier. Nur deine Gefühle. Sie bringen dich, wohin du willst und nur mit ihnen kannst du hier kommunizieren.“
Ich erhebe mich langsam und überrage den seltsam verunstalteten Körper vor mir um fast zwei Köpfe. Und mit meinem mich erheben scheint auch etwas in mir zu wachsen. Ich habe das erschreckende Gefühl, mich unendlich ausdehnen zu können. Was ist bloß mit mir los? Und warum bin ich hier in diesem Nebel?
Ich will mich erinnern, wo ich vorher war und augenblicklich bricht der Nebel um mich herum auf.
„Ja, erinnere dich an mich. Ich war immer bei dir. Ich habe dich geleitet und dir den richtigen Weg gezeigt. Durch mich hättest du etwas Großes werden können. Du warst dazu bestimmt. Dafür hättest du SIE nur dazu bringen müssen, sich nicht gegen den Teil von mir in sich zu wehren und du hättest dich mit ihr einfach nur vereinen sollen, um eure Teile von mir in einem neuen Körper zusammenzuführen. Aber was passiert? Du drehst durch und SIE … SIE…!“ Die Stimme versinkt in Schluchzern.
Bei seinen Worten, die mein Innerstes durchdringen, bricht etwas in mir auf.
Plötzlich erinnere ich mich an diesen Mann. Und ich erinnere mich an mich. Ich bin Tim und der Mann war die Stimme in mir, die mich von klein auf begleitet hatte. Erst nur als Freund, wenn ich einsam war. Doch später auch als Wegweiser. Er wollte etwas von mir. Deshalb war er bei mir. Er wollte …
„Ja, endlich erinnerst du dich.“
Er wollte, dass ich ihm half wieder ein Ganzes zu werden. Er hatte in seinem Leben als Alchemist Unsterblichkeit erlangen wollen, aber mit seinem Gebräu offenbar nichts erreicht, außer sich in seinen Nachkommen auszubreiten und sie zu manipulieren. Er war in mir gewesen und hatte mich in eine bestimmte Richtung lenken wollen. Aber in welche?
Nur langsam lichten sich die Nebel, die nicht nur um mich herum, sondern auch in mir zu sein scheinen.
Er wollte, dass seine Teile wieder zusammengefügt werden, damit er wieder leben kann. Seine Teile …?
Ich erinnere mich an ihn in mir. Aber alles andere will nicht aufbrechen.
„Auch die anderen hatten mich in sich. Erinnere dich endlich!“, zischt der Alte ungeduldig.
Es ist wie ein Stromschlag, der mich heiß durchrinnt. CAROLIN!
Plötzlich ist alles wieder da.
Er wollte, dass ich dieses Mädchen suche, die mich durch meine Träume begleitet hatte und mir darin ewige Liebe schwor. Und ich fand sie und eine Liebe, die mich heißer durchdrang als irgendetwas anderes. Nicht mal meine Liebe zur Musik konnte das wettmachen. Nicht mal die Menschen, denen das Herz aufging, wenn ich am Piano spielte. Nicht mal meine Mutter. Nur noch SIE!
„Ja, mit ihr solltest du meine Seelenteile zusammenführen. Dafür wart ihr bestimmt. Das war eure Bestimmung!“
In mir bäumt sich etwas auf. „Nein, meine Bestimmung war sie zu lieben“, und dann bricht wieder diese Betroffenheit und ein Schmerz über mich herein. Aber ich kann nicht zuordnen, warum ich so unendlich bestürzt bin und von was.
„Du erinnerst dich an SIE. SIE, die uns nicht wollte. SIE, die alles zerstörte. Jetzt ist alles vorbei. Meine Chance, meine einzige Chance - ihr habt sie zerstört!“, zischt es neben mir resigniert.
Und tatsächlich ist da etwas, das meinen Nebel aufreißt und diese Sehnsucht weiterwachsen lässt und ich spüre das Entsetzen darüber, etwas Wichtiges verloren zu haben. Und dann taucht es vor mir auf und der Nebel lüftet sich, als würde er zurückgedrängt werden.
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