Meine Eltern hatten beschlossen, Tom und Agnes nicht mit Tims Tod zu belasten. Dafür kannten sie Tim zu wenig. Er sollte für sie genauso wieder in der Versenkung verschwinden, wie er aus ihr hervorgekrochen war. Nur ich wurde eingeweiht, weil ich Papas Zusammenbruch bei Julians Telefonanruf mitbekommen hatte und mir die nötigen Hintergrundinformationen über den Unfall und Tims Tod aus dem Internet geholt hatte.
Dort stieß ich seltsamerweise auf einen Bericht, in dem stand, dass dieser Unfall in Zusammenhang mit einer Entführung gestanden haben soll. Das war allerdings etwas, was nur einmal irgendwo Erwähnung fand und dann sogar irgendwann wieder aus dem Internet verschwand, als wolle man drüber nichts wissen … oder man sollte davon nichts erfahren. Genauso, wie die Aussage, dass Tim sich auf einer angeblichen Hochzeitsreise befunden hatte. Das war natürlich quatsch. Tim war neunzehn. Da heiratet man nicht. Außerdem hätte er uns darüber informiert. Schließlich war er in den letzten Monaten öfters hier aufgetaucht. Und nach seinem Krankenhausaufenthalt vor einigen Monaten hatte er sich hier sogar einige Tage erholt. Ich habe nie herausgefunden, weswegen er im Krankenhaus gewesen war. Aber ich sah einmal, als Tim aus der Dusche kam und ich versehentlich ins Badezimmer platzte, dass er ziemlich üble blaue Flecken am Körper hatte. Doch weder er noch meine Eltern wollten mir darüber eine Auskunft geben. Aber mein Vater war zu der Zeit wirklich bedrückt und erst Wochen später, als ich ein Gespräch zwischen ihm und Tim belauschte, erfuhr ich, dass Tim seinen Bruder Julian deswegen verklagt hatte. Das war ein seltsames Gespräch. Tim wollte nämlich seine Aussage zurücknehmen.
Mein Vater war wütend deshalb und hatte Tim aufgebracht gefragt, warum er ihn denn überhaupt mit einer Falschaussage belastet hatte. Tim hatte nur gemurrt, dass seine neue Aussage die Falschaussage ist und war gegangen. Das war das letzte Mal, dass ich ihn hier im Haus sah und ist ungefähr zwei Monate her. Und plötzlich saß genau dieser Bruder bei uns, den Tim fast ins Gefängnis gebracht hatte, und berichtete uns von dem, was er über Tims Unfall wusste. Dabei erklärte er unter anderem: „Tim war mit meiner Schwester Carolin auf dem Weg zu einer Berghütte gewesen, die seinem Onkel gehört.“
Ich war völlig perplex über diese Aussage.
Auch mein Vater war überrascht. „Warum mit deiner Schwester? Und was ist mit ihr? Ist sie verletzt worden?“
„Sie liegt noch im Krankenhaus im künstlichen Koma. Sie hat einige Knochenbrüche und innerliche Verletzungen erlitten und war wohl mit dem Kopf böse angeschlagen. Aber sie hat zumindest überlebt.“
Ich sah Julian an, wie schwer ihn das mit seiner Schwester traf, als mein Vater raunte: „Oh mein Gott, das ist alles so schrecklich!“
Ja, das war es. Auch wenn mein Vater seinen zweitältesten Sohn eigentlich erst vor einigen Monaten kennengelernt hatte, traf ihn dessen Tod und ließ ihn um Jahre altern. Das erschreckte sogar mich.
Aber an diesem Nachmittag lag mir bei Julians Ausführungen auf der Zunge, etwas wegen dem Bericht wegen der Entführung einzuwerfen. Aber ich fand es dann doch nicht angebracht und hielt lieber den Mund, als der erklärte: „Tim wollte wohl mit ihr in der Hütte Weihnachten feiern. Dort war alles dementsprechend hergerichtet worden. Das sagte zumindest die Polizei. Und sein Navigationsgerät hatte das als Ziel gespeichert.“ Er klang niedergeschlagen, als er das sagte. Aber ich hatte auch irgendwie das Gefühl, er gab nicht alles Preis und er wirkte erschreckend nervös, als hätte er ein schlechtes Gewissen oder sogar selbst etwas zu verbergen. Aber ich schob dieses Gefühl auf die Berichte, die ich gelesen hatte. Sie ließen Tims Unfall mysteriös wirken und den Umstand, dass er die Schwester seines Halbbruders bei sich hatte, konnte ich auch nicht in Zusammenhang mit einer Entführung oder Hochzeit verstehen.
Julian blieb an diesem Nachmittag nicht lange. Er musste angeblich noch zur Arbeit.
Mein Vater fragte ihn, was er denn arbeiten würde. Darauf hatte er seltsam widerstrebend geantwortet, dass er Chemie und Biologie studiert und für eine Firma in einem Labor tätig ist. Und es klang bei ihm so, als wäre das etwas, was man besser nicht erwähnt. Dabei fiel sein Blick auf mich, als erwarte er von mir eine Reaktion. Dann gab er meinem Vater seine Handynummer und bat darum, dass er ihn anruft, wenn er nach Wolfsburg zu Tims Beerdigung fahren will. Julian wollte dann mit ihm mitfahren.
Ich beschloss sofort, dass ich auch mitfahre.
Es klingelt an unserer Haustür und ich denke, dass das Julian ist. Ich steige in meine Boots, schließe das Internet mit den Berichten von Tims Tod, damit Tom und Agnes sie nicht zufällig sehen und werfe mir die Jacke über. Als ich die Treppe hinunterlaufe, öffnet Mama gerade die Tür.
Julian begrüßt sie und winkt nur ab, als sie ihn ins Haus bittet. Da sie schon ihren schwarzen Mantel anhat, geht er wohl davon aus, dass wir sofort losstarten wollen. Aus der Küche höre ich Mamas Freundin Silke rumoren. Sie soll wohl bei Tom und Agnes bleiben.
Wenig später sitze ich neben Julian in dem Opel meines Vaters. Meine Mutter sitzt auf dem Beifahrersitz. Dass sie mitfährt, finde ich wirklich nett von ihr. Diese vielen Söhne meines Vaters hatten, seit Tims auftauchen bei uns, einige Wellen geschlagen. Und nun ist einer von ihnen tot.
Ich fühle in mich hinein und da ist nicht viel Trauer zu finden. Ich kannte Tim auch eigentlich nicht richtig und hatte keinen Bezug zu ihm. Ich war sogar anfangs ziemlich aufgebracht darüber, dass er überhaupt aufgetaucht war. Mein Vater tat immer so rechtschaffend, dass ein unehelicher Sohn nicht ins Bild passte … und zwei schon dreimal nicht. Dazu kam, dass Tim all das verkörperte, was mein Vater an mir vermisst. Er war das Musiktalent, dass ich niemals werde. Er nahm ihn auch ein paar Mal mit zur Musikschule, in der mein Vater arbeitet und schwärmte uns abends beim Abendbrot vor, wie unglaublich Tim Klavier spielen kann. Dabei leuchteten seine Augen auf und man sah ihm an, wie sehr ihn das freute.
Mich natürlich weniger. Ich glaubte an dem Blick meines Vaters zu sehen, wie sehr ich ihn in dieser Hinsicht enttäusche.
Aber Tim verkörperte halt alles, was mein Vater für wünschenswert hält und der Clou war, dass Tim sich mit seinen neunzehn Jahren damit sogar vollständig selbst finanzierte. Es wurde schnell klar, dass Tim nicht wegen Geld meinen Vater aufgesucht hatte. Er verdiente wahrscheinlich mehr als mein Vater mit seinem Lehrergehalt.
Wie sehr mein Vater Tim sofort ins Herz geschlossen hatte, sah man auch daran, dass er ihm seinen Opel überließ, um mich zu einer Schulveranstaltung zu fahren. Auf der Fahrt überraschte Tim mich mit der Aussage, dass er von Wolfsburg nach Osnabrück gezogen sei, weil er ein ganz bestimmtes Mädchen hier treffen wollte.
Ich dachte bis dahin, es ging ihm nur darum, sich in meiner Familie einzuschleimen. Aber dann wäre er nicht in so ein Kaff außerhalb von Osnabrück gezogen. Angeblich wohnt dieses Mädchen dort.
Ich fragte ihn, mir nicht ganz sicher, ob er mir nicht nur irgendeinen Quatsch auftischte: „Woher kennst du das Mädchen? Wo seid ihr euch das erste Mal begegnet?“ Schließlich wohnte Tim in Wolfsburg, bevor er hierherzog.
Der warf mir einen schnellen Blick zu, während er den Opel meines Vaters durch die Stadt lenkte: „Wir sind uns nicht irgendwo begegnet. Ich sah sie in meinen Träumen und wusste, ich muss sie finden.“ Dabei sah er mich so komisch an, als erwarte er etwas von mir.
Ich hatte oft bei ihm das Gefühl, als würde er nur darauf warten, dass ich irgendeine seltsame Regung zeige, die ihm etwas über mich verrät. Und auch bei dieser Traumgeschichte sah er mich an, als wäre es doch das natürlichste der Welt, dass man von jemandem träumt und dann hunderte von Kilometern weit fährt, um denjenigen auch ausfindig zu machen.
Читать дальше