Als der Stuhl ausgerollt ist, stehe ich auf. Ich muss mich anziehen. Gleich kommt Julian und wir fahren nach Wolfsburg zu Tims Beerdigung.
Es war ein Tag vor Weihnachten, als mein Vater einen Anruf bekam, der ihn in zweierlei Hinsicht völlig aus der Bahn warf. Erstens, weil der Anruf von einem Sohn von ihm war, dem er noch niemals begegnet ist. Und zweitens, weil dieser Sohn meinem Vater erzählte, dass sein anderer Sohn, den er erst vor wenigen Monaten kennengelernt hatte, tot ist. Meine Mutter hörte ihn wohl weinen und lief ins Zimmer, ein beunruhigtes: „Markus, was ist passiert?“, ausrufend.
Das und die gestammelten Worte meines Vaters weckten irgendwie mein Interesse. Aber es war sein folgender Zusammenbruch, der mich magisch ins Wohnzimmer zog.
„Was ist los?“, fragte ich und konnte nicht fassen, meinen Vater weinen zu sehen. Meine Mutter kam zu mir und zog mich in ihre Arme. „Tim ist tot. Er hatte einen Autounfall.“
Tja, was sollte ich dazu sagen?
Tim war erst vor einigen Monaten in unser Leben geschlittert. Ich hatte bis dahin nicht die leiseste Ahnung, dass es außer Tom, Agnes und mir noch mehr Kinder von meinem Vater gibt. Und dann stand plötzlich dieser Tim vor der Tür. Nach neunzehn Jahren wollte er plötzlich seinen Vater kennenlernen.
Ich war damals echt platt. Schließlich hatte ich nicht die geringste Ahnung, dass es ihn gibt. Ganz im Gegensatz zu meiner Mutter, die wohl von Anfang an über die Jugendsünden meines Vaters unterrichtet war. Zumindest blieb sie bei der ganzen Sache echt locker.
Mich haute der Umstand, dass der Typ mein Bruder ist, allerdings aus den Socken.
Und dann kam auch noch dieser andere Halbbruder von uns vor zwei Tagen her.
Auch von dessen Existenz hatte ich bis vor wenigen Monaten noch nicht einmal etwas geahnt. Aber Tim hatte ihn mir gegenüber kurz erwähnt, wollte aber nichts weiter über ihn preisgeben, außer dass er Julian heißt und Papas ältester Sohn ist. Natürlich ging ich davon aus, dass Tim und Julian Geschwister sind, wie Tom, Agnes und ich auch. Aber weit gefehlt. Es war bei den beiden nur mein Vater, der sie verband.
Der war völlig außer sich, als diesmal Julian vor der Tür stand.
Ich wurde sogar Zeuge, wie er diesen völlig fremden Typen in seine Arme schloss und erneut anfing zu heulen.
Ich kam gerade die Treppe hinunter und wollte nur sehen, wer geklingelt hat. Verdattert blieb ich auf dem Treppenabsatz stehen und bestaunte die unwirkliche Szene, als der Blick von dem jungen Mann auf mich fiel.
Mein Vater ließ ihn los und drehte sich zu mir um. „Phillip, das ist Julian. Dein Halbbruder.“
„Noch einer“, knurrte ich nur, weil ich auf diese Spielchen wirklich keinen Bock hatte. Mein Vater zerstörte mit diesen beiden unehelichen Söhnen gnadenlos mein Weltbild. Alles, was er mir bis dahin jemals gepredigt hatte und mir als Vorbild vorgab, war mit Tim schon ins Wanken geraten. Julians Existenz brachte alles komplett zum Erliegen. Was sollte ich mir als Sechzehnjähriger von einem Vater vordiktieren lassen, der selbst sein Leben niemals im Griff hatte. Und es war schon schwer genug, mich mit Tim zu arrangieren, dem großartigen Pianisten, dessen Werdegang genau im Internet verfolgbar ist. Er war sogar richtig berühmt!
Gegen ihn bin ich nur ein kleines Licht, dass sich durch die zehnte Klasse der Schule mogelt, gerne Partys macht, raucht, säuft und auch mal einen Joint zieht. In mir gibt es kein bisschen musikalisches Talent oder Interesse daran, obwohl mein Vater nie müde wurde, mich zum Erlernen eines Musikinstruments zu nötigen. Einige Zeit zerrte er mich sogar in seine Musikschule.
Aber ich bin ziemlich Lernresistent, was das angeht und brachte meinen Vater mit meinem Desinteresse immer wieder auf die Palme. Doch er musste damit leben, bis Tim auftauchte und zeigte, dass es doch bessere Söhne gibt.
Tim spielte seit seinem neunten Lebensjahr in Orchestern mit und gab sogar Konzerte. Sein Eindringen in mein Leben machte es nicht leichter. Von dem Tag an, als er plötzlich vor unserer Tür stand, änderte sich alles.
Ich war damals nicht zu Hause, als das großartige Vater-Sohn-Zusammentreffen stattfand. Aber als ich nichtsahnend nach Hause kam, rief mich meine Mutter mit einem seltsamen Blick ins Wohnzimmer und erklärte mir: „Phillip, wir haben Besuch. Das ist Tim, dein Halbbruder.“
Ich starrte den jungen Mann an, der sich langsam aus unserem Sofa erhob, in dem außer ihm auch noch Tom und Agnes hockten. Ich sah gleich, dass Tom seinen neuen Halbbruder cool fand und Agnes, unser fünfjähriges Nesthäkchen, diesen langen, schlaksigen, dunkelhaarigen Kerl offensichtlich auch gleich in ihr Kinderherz geschlossen hatte. Sie wich nur widerwillig von seiner Seite und himmelte ihn regelrecht aus ihren blauen Augen an.
Sein Blick heftete sich in dem Moment auf mich und er baute sich zu seiner ganzen Größe vor mir auf, als wolle er mir gleich seine Überlegenheit demonstrieren. „Hallo Phillip“, sagte er nur und hielt mir seine Hand hin.
Ich nahm sie, ohne ein Wort hervorzubringen. Dann musste ich mich auch noch zu ihnen setzen und Tim erzählte meinen Eltern und Geschwistern weiteres von seinem ruhmreichen Leben als Pianist.
Ich glaubte damals, meinen Ohren nicht zu trauen. Da saß doch tatsächlich der leibhaftige Wunschsohn meines Vaters auf unserem Sofa. Ich konnte es nicht fassen.
Mein Vater war auch von Anfang an völlig hingerissen von dem, was Tim von sich gab und mehr als einmal fiel sein Blick auf mich, als könne er nicht fassen, dass ich so anders geraten war.
Und dem folgte dann vor zwei Tagen dieser Julian, ein weiterer Bruder und wohl der Älteste von uns allen. Außerdem scheint er ganz offensichtlich ein Klon meines Vaters zu sein. Zumindest nach den Bildern von ihm aus früheren Jahren, als er bestimmt jedes Frauenherz betörte.
Also, nachdem mein Vater mir mitgeteilt hatte, dass nun ein weiterer Halbbruder sein Stelldichein gab, meisterte ich ziemlich verdattert die Treppe ins Untergeschoss. Julian kam auf mich zu und hielt mir die Hand hin. „Phillip, schön dich kennen zu lernen, auch wenn die Umstände alles andere als schön sind. Tim hat mir von dir erzählt.“
„Aha!“, brachte ich nur hervor und konnte seinem Gesichtsausdruck nicht entnehmen, was Tim über mich vom Stapel gelassen hatte. Ich kann mir aber nicht denken, dass es viel Gutes war.
Julian drückte meine Hand und zwinkerte mir zu, als wüsste er genau, wie seltsam das alles für mich sein muss. Das hatte wiederum etwas Verschwörerisches.
Meine Mutter kam aus der Küche und mein Vater erklärte ihr, und man merkte ihm an, wie unangenehm ihm das war: „Das ist Julian, mein Ältester.“
„Noch ein Sohn aus der Versenkung“, meinte Julian lapidar, gab Mama die Hand und schenkte ihr ein Lächeln, das sie sprachlos machte. Es muss sie stark an meinen Vater erinnert haben, als er noch nicht mit Übergewicht, Haarausfall und Falten kämpfte.
Aber mir erging es nicht anders. Schon seinen Spruch fand ich cool und den Sarkasmus, mit dem er ihn hervorbrachte. Außerdem erwähnte er Tims Namen, ohne gleich in eine Tiefentrauer zu fallen oder vor Ehrfurcht zu erstarren. Irgendwie fand ich ihn sofort sympathischer als Tim.
Ich folgte den dreien ins Wohnzimmer, in dem Julian meinem Vater wegen Tim Rede und Antwort stehen musste. Mich an den Türholm lehnend, wartete ich gespannt auf das, was Julian zu berichten hatte. Wir wussten zu diesem Zeitpunkt nur aus den Zeitungen und dem Internet, und dem wenigen, was Julian schon am Telefon gesagt hatte, dass Tim selbst das Auto gefahren hatte. Es war aus einer Kurve geflogen und an einem Baum zerschellt. Es hieß, dass Tim noch an der Unfallstelle gestorben war. Das zumindest waren die einen Fakten und Berichte, die mit Bildern hinterlegt glaubwürdig klangen. Aber es gab auch einige wilde Spekulationen und Storys, die man nicht alle ohne weiteres glauben konnte. Doch zu dem Zeitpunkt, als Julian meinen Vater angerufen hatte, wusste der auch noch nichts genaues und Papa hatte mit Tims Mutter kein vernünftiges Gespräch führen können. Aber wohl verständlich. Wie Papa meiner Mutter erklärt hatte, war Tim das einzige Kind dieser Frau. Ich hörte Papa sogar über Tims Mutter sagen: „Sie war schon immer sehr labil und psychisch grenzwertig. Das wird sie bestimmt völlig durchdrehen lassen.“
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