Automatonophobie: Angst vor Puppen.
Der Mund der Figur ist zu einem stillen Schrei geformt, die Kulleraugen weit aufgerissen. Aber in ihnen funkelt nicht nur die Angst. Da ist noch etwas anderes. Ein anderes, mich beherrschendes Gefühl: Die Scham.
Angst und Scham gehen bei mir immer einher.
Es ist diese Hilflosigkeit und die Empfindung, nicht Herr seiner eigenen Gefühle zu sein, die die Angst kurz zurückdrängt. Aber nur für einen Bruchteil von Sekunden, dann kehrt sie zurück.
Sie kehrt immer zurück.
In diesem Moment ist die Angst unter einem bestimmten Deckmäntelchen, was für die meisten Menschen eher beruhigend wirken würde, hervorgekrochen und hat mich aus meinem unruhigen Schlummer erwachen lassen: Das Prasseln des Regens – Ombrophobie – der nun, durch die herrschende Kälte, in Eisregen übergegangen ist.
Aber – und das muss ich mir mit jedem weiteren Tag meines Lebens eingestehen – ich bin nicht wie die meisten Menschen.
Ich bin anders.
Meine Hände an meinen Ohren wollen mich von diesem steten Blopp, Blopp, Blopp, abschirmen, das die dicken, gefrorenen Tropfen, die erbarmungslos an meine Fensterscheibe hämmern, verursachen. Ich hasse dieses Geräusch und das Gefühl, das es in mir auslöst.
Acoustophobie: Angst vor Geräuschen.
Dabei muss ich unweigerlich an die Abgase, die die Luft verschmutzen und gelöst in den kleinen, gefrorenen Wassertröpfchen vom Himmel fallen, denken. Unzählbar viele tickende Eiswürfelchen-Zeitbomben, die den Boden verseuchen. Ich stelle mir vor, das Püppchen drohe in einer dieser Pfützen zu ertrinken und erwische mich dabei, wie ich den Atem anhalte.
Ja, ich hab sogar Angst vor der Atemluft: Aerophobie .
Allein der Gedanke, die Fensterscheibe könnte Schaden nehmen oder schlimmer: Einen Spalt weit offen stehen, lässt mich fast durchdrehen.
Mysophobie: Angst, mit Schmutz in Berührung zu kommen .
Ich will weglaufen, mich in Sicherheit bringen, aber bin wie gelähmt – starr vor Angst. Darüber hinaus könnte ich nirgendwo hin, denn in meinem Kopf gibt es nur die Suggestion von Schutz. Gefahren lauern überall um mich herum. Ich rette mich nur von einem zum anderen Moment, indem ich eine Angst zurückdränge, deren Platz von einer anderen eingenommen wird.
Mir vorzustellen, diese von Schmutz getränkte Feuchtigkeit könnte sich wie ätzende Säure – Acidophobie – in meine hypoallergenen Laken fressen, mit denen ich mich wie in einen Kokon eingewickelt habe, versetzt mir den nächsten Schub.
Adrenalinausschüttung – Pulsrasen – Schnappatmung – Pupillenerweiterung – Schweißausbruch.
Es fühlt sich so an, als ob die Angst, die meinen Rücken entlang kratzt, ihre Krallen tief in mein Fleisch schlägt.
Aphenphosmophobie: Angst vor Berührungen.
Ich sehe das Holzpüppchen vor mir. Anstatt der seidenen Fäden schlagen sich Stacheldrähte um seinen Körper.
Adrenalinausschüttung – Pulsrasen – Schnappatmung – Pupillenerweiterung – Schweißausbruch.
Es passiert schon wieder.
Gerade wird mir klar, dass das Holzpüppchen in der heutigen Aufführung ein sonderbares Bild abgeben muss. Ich sehe die leblosen Augen der Gestalt in Edvard Munchs Gemälde „ Der Schrei “ vor mir.
Hier drin bin ich absolut sicher , sage ich mir unaufhörlich. Das Fenster kann man nicht öffnen. Es ist verschlossen – hermetisch abgeriegelt. Dreifach verglastes Sicherheitsglas. Mit einer verspiegelten Spezialfolie UV-beschichtet, sodass es die schädlichen Strahlen des Sonnenlichts absorbiert. Dank der Folie ist es praktisch unmöglich, von außen hereinzublicken.
Meine Atemluft strömt aus einer Lüftungsanlage. Sie wird auf dem Dach angesaugt, durchläuft mehrere Pollen- und Feinstaubfilter und strömt lupenrein aus den kleinen, runden Tellerventilen an der Decke meines Zimmers. Meine verbrauchte Atemluft wird durch die bauchigen Ventile abgesaugt und fünfundzwanzigmal am Tag komplett getauscht.
Aerophobie – Angst vor der Luft.
Meine Eltern haben keine Kosten und Mühen gescheut, um das Haus nach meinen Bedürfnissen umzubauen.
Mann , wie das klingt.
So als wär ich jemand, der an Allergien leidet oder an einer ansteckenden Krankheit. Ich stelle mir vor, eine Seuche würde das Püppchen befallen, sehe rote, eitrige Pusteln, die jeden Zentimeter meiner Haut überziehen.
Dermatophobie: Angst vor Hautkrankheiten .
Adrenalinausschüttung – Pulsrasen – Schnappatmung – Pupillenerweiterung – Schweißausbruch.
Sie jagt erneut in Wellen durch meinen Körper. Besiedelt mich wie ein Krebsgeschwür.
Keine Angst , wiederhole ich wie ein Mantra, was noch nie funktioniert hat.
Sollte das System durch einen Stromausfall versagen, habe ich immer noch meinen OP-Mundschutz, den ich nie abnehme.
Hier drin bin ich absolut sicher . Der Gedanke an die Seuchenschleuse direkt hinter meiner Zimmertüre, die auch bei Quarantänefällen in Krankenhäusern zum Einsatz kommt, beruhigt mich einigermaßen. Wobei „beruhigen“ nicht das richtige Wort ist, um das zu beschreiben, was in mir vorgeht. „Beschwichtigen“ wäre treffender.
Nosophobie: Angst, krank zu werden .
Aber weder bin ich krank, noch leide ich an Allergien – zumindest sind meine Phobien nicht ansteckend und auch in keiner Allergenen-Tabelle der Welt gelistet.
Es bleibt eigentlich nur ein Schluss. Niemand wagt es auszusprechen, aber ich sehe es. Sehe es meiner Familie an der Nasenspitze an, was sie denken, wenn sie mich wiedermal mit diesem speziellen „ Blick “ ansehen.
Ich bin anders.
Nicht normal.
Das weiß ich, auch ohne dass jemand ein Wort darüber verlieren würde. Ihre Blicke sprechen Bände.
Was bin ich?
Ich bin ein Angsthäschen, ein Feigling, ein Schisser, ein Hasenfuß, ein Duckmäuschen. Gerade in diesem Augenblick frage ich mich, wann der Kammerjäger zuletzt da war oder Mum unser Haus ausgeräuchert hat.
Sofort beschert mir die Vorstellung von trappelnden Mäusebeinchen auf meinem Fliesenboden, die in ihrem Fell hereinbringen könnten, was unter allen Umständen draußen bleiben muss, Gänsehaut.
Muriphobie: Angst vor Mäusen .
Ich spüre die kleinen Viecher sogar, als würden sie direkt auf meiner Kopfhaut krabbeln.
Pediculophobie: Angst vor Läusen .
Okay. Stopp. Keine Angst. Keine Angst. Keine Angst. Keine Angst. Keine Angst. Keine Angst. Keine Angst. Keine Angst. Keine Angst. Keine Angst. Keine Angst. Keine Angst. Keine Angst.
Es funktioniert nicht. Mein Puls rast unaufhörlich.
Vor meinem geistigen Auge taucht das Holzpüppchen auf – zitternd wie Espenlaub – im Hintergrund das schallende Lachen des Puppenspielers, der nicht zulässt, dass ich Kontrolle über mich selbst erlange. Unermüdlich schüttelt er das Püppchen, zieht es in Richtungen, die es selbst nie einschlagen würde.
Meine Hände zittern – ich verliere immer mehr die Kontrolle über sie – über meinen Körper.
Ein Scheiß Gefühl.
Keuchend öffne ich die Augen, die ich seit der Entdeckung der Eiskristalle geschlossen gehalten habe. Das gebrochen weiße Licht des Nachtlichts erhellt Teile meines Zimmers und taucht es in dieses diffuse Spiel aus Licht und Schatten, das mir eigentlich – nach all den schlaflosen Regennächten – wohlvertraut sein sollte.
Sciaphobie: Angst vor Schatten.
Aber heute ist es anders.
Ein „ Anders “ löst das Gefühl übrigens immer aus – Cenophobie.
Die Dunkelheit wird immer wieder von den Reflexionen des Mondes zurückgedrängt, die sich in den geschmolzenen Schneeflocken auf meiner Fensterscheibe, die durch den Temperaturunterschied des Glases schlussendlich wieder zu Regentropfen geworden sind, brechen.
Читать дальше