Eine Schwester vom orthopädischen Männersaal kam mit Krankenblättern zum Eintragen von Medikamenten, die weiter zu geben waren, da ohne Neueintrag die Pharmazie die Ausgabe der Medikamente verweigerte. Diesbezüglich entsprach die neue Zeit der alten, obwohl der allgemeine Vorrat an Medikamenten nach der Unabhängigkeit aufgestockt wurde. Dr. Ferdinand machte die erforderlichen Eintragungen. Der philippinische Kollege gegenüber schaute zu Boden, als eine junge Frau vom Stuhl herabglitt und von einem epileptischen Anfall geschüttelt wurde. Ihre Arme krümmten sich und schlugen dann wild auseinander. Sie bekam Schaum vor den Mund und eine schwere Atmung. Heftige Krämpfe verzerrten ihr Gesicht zu gruselhaften Grimassen und schaurigen Fratzen. Ihr Rumpf krümmte sich nach hinten. Arme und Beine versteiften in abartiger Position. Die Stationsschwester eilte mit den Krankenblättern aus dem Untersuchungsraum, aus dem die Patienten nach draußen gebeten wurden. Die beiden Ärzte knieten um die sich Krümmende, wischten ihr den Schaum vom Munde und drehten ihren Kopf zur Seite. Es dauerte einige Minuten, bis die Frau ihr Bewusstsein wiedererlangte. Sie machte große Augen über das, was abgelaufen war. Nur an den Anfang konnte sie sich erinnern, dann verlor sie die Kontrolle. Bei Durchsicht des Gesundheitspass es fand Dr. Ferdinand den ersten Vermerk eines epileptischen Anfalls zur Zeit des Machtwechsels von weiß nach schwarz. Über die Ursache der Epilepsie fand sich dagegen nichts. Bei den meisten Erwachsenen war die Epilepsie Folge von schweren Schädeltraumen, die oft durch Knüppelschläge oder Schläge mit Eisenstangen hervorgerufen wurden. Der philippinische Kollege notierte den neuerlichen Krampfanfall im Pass und vermerkte die Dauer des Anfalls mit fünf Minuten. Die junge Frau gewann ihr Bewusstsein zurück und wurde auf die Trage gehoben, wo ihr die Schwester mit einem feuchten Tuch den Speichel vom Gesicht wischte. Der verletzte Finger, weswegen sie gekommen war, wurde mit zwei Nähten versorgt und verbunden. Dann wurde die Frau zur weiteren Beobachtung in den orthopädischen Frauensaal gefahren. Die posttraumatische Epilepsie war eine relativ häufige Erscheinung unter diesen Menschen. Da wurde auf eine Besserung im sozialen Gefüge und Verhalten vor allem vonseiten der Männer mit der neuen Freiheit gehofft. Die Männer hatten Grund dazu, ihre Rolle in der Familie und Gesellschaft zu überdenken und von der groben Gewalt gegenüber wehrlosen Frauen und Kindern endgültig abzusehen. Sie mussten den Respekt vor dem körperlich Schwächeren, der ihnen intellektuell oft überlegen war, noch lernen.
Nach dieser Unterbrechung wurde die Sichtung der Patienten fortgesetzt. Ein junger Mann setzte sich auf den Schemel, dessen linke Hand den rechten Unterarm hielt. Er klagte über Schmerzen in der rechten Schulter. Nach einer Auseinandersetzung, die schließlich mit den Händen anstatt mit Worten ausgetragen wurde, verdrehte einer seinen Arm so stark, dass er ihn nicht mehr bewegen konnte. Dr. Ferdinand sah auf die rechte Schulter und fühlte die Delle der leeren Pfanne und den dahinterliegenden, ausgekugelten OberarmKopf. Er nahm den jungen Mann mit in den Gipsraum, legte ihn auf die Liege, gab ihm die Spritze zur Kurznarkose und renkte den Arm in das Schultergelenk ein. Mit einem Schulter-Armverband nach dem Pariser Chirurgen Desault stellte er das Schultergelenk ruhig. Nachdem der Patient aus der Narkose erwacht und voll ansprechbar war, erklärte ihm Dr. Ferdinand, dass er den Verband für eine Woche zu belassen hatte. Der Patient versprach, der Anordnung zu folgen, und verließ mit dem Gesundheitspass den Gipsraum, um sich am Tresen die im Pass eingetragenen Schmerztabletten von der Schwester geben zu lassen. Dr. Ferdinand entfernte im kleinen OP einen Holzsplitter aus dem Fuß eines Mädchen. Er setzte die örtliche Betäubung mit einer Spritze, schnitt die Haut ein, fasste den Splitter mit einer Klemme, zog ihn aus dem Fuß und vernähte die Wunde. Das Mädchen gab keinen Klagelaut von sich, auch dann nicht, als ihr die Schwester die Spritze gegen den Wundstarrkrampf ins Gesäß gab. Die Mutter wartete vor dem OP und nahm das Töchterchen, das einen Fußverband hatte, auf den Rücken. So ging sie zum Tresen der Medikamentenausgabe, um die Antibiotika und Schmerztabletten in Empfang zu nehmen. Der folgende Patient war ein Albino um die dreißig, dem die ultravioletten Strahlen zahlreiche Hautschäden im Gesicht und an den Armen gesetzt hatten, die nicht abheilten und über die Jahre den Boden für die Entstehung multifokaler Hautkarzinome gaben. Der Mann war wegen einer schmerzhaften Schwellung des rechten Kniegelenks gekommen. Zur Vorgeschichte gab er an, dass er etwa eine Woche zuvor gefallen sei. Die Röntgenaufnahme brachte keinen Hinweis auf eine knöcherne Verletzung. Die weitere Untersuchung ergab eine schmerzhafte Bewegungseinschränkung im Kniegelenk mit instabilem Außenband. Dr. Ferdinand punktierte einen blutigen Erguss aus dem Gelenk ab und nahm den Patienten zur operativen Außenband-Wiederherstellung auf. Er trug den Namen des Patienten mit der Diagnose in seiner vorläufigen OP-Liste ein.
Alle Patienten waren noch während der regulären Arbeitszeit gesehen und behandelt worden. Die Schwester der Spätschicht räumte die Sachen zusammen. Dr. Ferdinand und der Kollege wuschen sich die Hände und schlugen sie zum Trocknen durch die Luft. Sie verabschiedeten sich. Dr. Ferdinand wünschte dem Kollegen für den nächsten Tag eine gute Fahrt, um seine Töchter für die Schulferien in der Konventschule in Windhoek abzuholen und in den hohen Norden zu bringen. Sie standen noch vor dem 'Outpatient department' und besprachen einige Dinge bezüglich der Patienten, als der Superintendent vom 'theatre' kam und im Vorübergehen Dr. Ferdinand bat, in sein Büro zu kommen. Bei der Besprechung ging es um das Seminar, das bevorstand. Es wurden die Vortragenden und ihre Themen noch einmal durchgesprochen, wie sie auf dem Programm standen. Da hatte auch der Superintendent noch an seinem Referat zu arbeiten. Wie bei allen vorangegangenen, halbjährlich durchgeführten Seminaren lagen die technischen Vorbereitungen ganz in den Händen von Dr. Ferdinand. Es war ein erstaunliches Phänomen, dass sich von den schwarzen Kollegen keiner anbot, bei den umfangreichen Vorbereitungen mitzuhelfen. Sie hielten ihren täglichen Routinetrott ein und machten keinen Schritt schneller oder mehr. Sie taten es ohne jegliche Bedenken und Rücksicht, dass diese Arbeit für einen eigentlich zu viel war, ihn überforderte. Auf der anderen Seite waren diese Kollegen, wenn auch recht unterschiedlich, an einer Fortbildung interessiert. Einige von ihnen waren bereit, einen Beitrag in Form eines Referats zu leisten. Die Hauptredner kamen aus Südafrika von den Universitäten in Bloemfontein, Durban, Cape Town, Johannesburg, Potchefstroom und Pretoria. Die Reise-, Verpflegungs- und Unterbringungskosten für diese Referenten hatte jedesmal Herr Francois vom Orthopaedic Centre in Windhoek übernommen. Das Hospital hatte lediglich den Saal mit Bildprojektor und Leinwand zu stellen, für Tee und Kaffee mit belegten Brötchen und Broten am Morgen und in der Vor- und Nachmittagspause zu sorgen und zur Freude aller Teilnehmer ein Barbecue (Braai) am Abend des ersten Tages zu veranstalten. Da zeigte sich die Beliebtheit dieser abendlichen Einrichtung, die doch größer war als der Wunsch zu lernen und sich fortzubilden, weil da viel mehr, oft doppelt so viele Menschen erschienen als an den Arbeitssitzungen, um gratis zu essen und gratis zu trinken. Es war ein Phänomen, das ganz eng mit der neuen Freiheit einherging. Da spielte es keine Rolle, ob man an der Arbeit des Seminars teilnahm oder nicht. Den 'Braai' mit dem frisch gegrillten Fleisch und den Salaten, mit dem Bier und den andern 'cool drinks' wollte man sich nicht entgehen lassen. Es passte zur Formel: Annehmlichkeit: Ja; Arbeit: Nein. Es war ein Phänomen, dass es wahrscheinlich schon vor der Unabhängigkeit gab, da aber nicht aufgefallen war, da damals alle begriffen hatten, dass hart gearbeitet werden musste, um das Hospital zu erhalten und den Menschen in der großen Not zu helfen. Es mochte die ständige Angst ums Überleben gewesen sein, als die Granaten immer näher und lauter einschlugen, dass da keiner so sehr ans gratis Fleischessen und gratis Biertrinken dachte, weil es mit dem Mahangupapp und dem sauberen Wasser genug war, wenn es das gab. Damals stand noch die Idee der Freiheit ganz oben. Man war bereit, dafür zu hungern und zu dursten und anderswie zu opfern. Das hatte aufgehört, als diese Idee mit dem Eintritt der Unabhängigkeit sich zu verwirklichen schien. Da wollte man dann doch keine Opfermehr bringen, sondern sich das zugute führen, was man glaubte für die Freiheit geopfert zu haben. Da trat das zweite Phänomen ans Tageslicht: Lautstarke Menschen rückten sich in den Vordergrund und drückten die andern, die aufgrund der besseren Erziehung und des stärkeren Glaubens in die göttliche Geduld und Gnade nicht so laut herumschrien, in den Hintergrund. Dabei zeigte sich, dass die in den Hintergrund gedrückten Menschen meist die viel größeren Opferfür die Freiheit gebracht haben als die plärrenden Marktschreier und politischen Schreihälse auf den Märkten der Verdrehung und Wichtignehmerei. Die Lautschwachen waren oft die, die sich mit ganzer Kraft für die Unabhängigkeit und Freiheit eingesetzt, dafür gehundert und gedurstet hatten, die für die Idee der Freiheit geschlagen und gefoltert, in Erdlöcher gesteckt und ins Gesicht getreten wurden. Diese Menschen hatten sich verausgabt und oft alles für die Freiheit weggegeben und weggeopfert. Es waren ihre Männer und Söhne, die im Kampf für die Freiheit ihr Leben gaben oder als wehrlose Krüppel überlebten. Es waren ihre Mütter und Töchter, die in ihrem Einsatz geschändet, misshandelt und erschlagen wurden. Bei dieser Kategorie von Menschen gab es kein lautes Sprechen mehr. Die Schreihälse, die sich nach der Unabhängigkeit in den Vordergrund schrien, waren meist jene, die sich beim Opfern eher zurückgehalten hatten, die da berechnend waren und die Chancenwahrscheinlichkeit im Auge hatten. Sie ließen die andern opfern, damit sie noch genug Kraft zum Schreien und Klettern auf den Leitersprossen zur Macht hatten, wenn es mit der Freiheit soweit war. Da waren die Herzen andere Wege gegangen als der kalkulierende Intellekt. Die Wahrheit mit den Opfern war bei den Herzen, und die Lüge war bei den Schreihälsen. So kamen mit der neuen Freiheit auch ungleiche Dinge an den Tag, die mit den ungleichen Charakteren zu tun hatten, die ihre ungleichen Wege und Fußstapfen weit zurückverfolgen ließen, als es von der neuen Freiheit noch nichts gab. Doch, wer einmal laut gewesen war und das Gefühl des Getragenwerdens bei vollem Magens bekam, der wollte nicht mehr leise reden.
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