Der philippinische Kollege teilte Dr. Ferdinand beim Händewaschen mit, dass er am nächsten Tage, einem Donnerstag, seine Töchter von der Konventschule in Windhoek abholen wolle, da die Schulferien begännen. Sie trockneten sich die Hände im Fließpapier und ließen sich die sterilen grünen Kittel überziehen, als Dr. Ferdinand nach dem Standard dieser Schule fragte, die von denselben Ordensschwestern geführt wurde wie das angrenzende Hospital. Der Kollege sprach mit Achtung von der Schule und meinte, dass der Leistungsstand, verglichen mit anderen Schulen, hoch sei. Doch seien auch die Schulgebühren hoch. Das Gehalt seiner Frau, die Biologie in den höheren Klassen einer Grundschule unterrichte, helfe da aus der Enge.
Der Patient zur operativen Versorgung eines rechtsseitigen Oberarmbruches lag in Narkose, und die OP-Schwester deckte ihn mit grünen Tüchern ab. Dr. Ferdinand fragte den Kollegen, ob er die Operation durchführen wolle. Er erwiderte ohne einen gedanklichen Verzug: "It's okay. You do the Operation!" Die Schwester reichte das Skalpell, und Dr. Ferdinand schnitt die Haut längs an der Außenseite. Dann schnitt er die Muskelhülle ein und trennte die Muskelportionen in Faserrichtung stumpf mit dem Finger. Er stellte den Oberarmknochen dar, der in mehrere Stücke gebrochen war. Dann suchte er den Speichennerv auf, der den Knochen überquert, und sicherte ihn hinter einem Wundhaken. Die Bruchstücke wurden zusammengesetzt und in anatomischer Stellung an eine schmale Sechslochplatte geschraubt. Der Speichennerv blieb unbeschädigt. Dann erfolgte der schichtweise Wundverschluss des Weichteilmantels mit EinzelknOPfnähten und das Anwickeln des Verbandes. Der ukrainische Kollege, der sich scheute, einige Sätze in seinem Stakkato-englisch hintereinander zu sprechen, sagte "okay? Okay!" und zog den Atemtubus aus der Luftröhre. Der Operierte wurde vom Tisch auf die Trage gehoben und mit der Sauerstoffmaske über Mund und Nase in den Aufwachraum gefahren. Der philippinische Kollege zog sich nach dieser Operation im Umkleideraum die zivile Kleidung an und machte sich auf den Weg zum OPD (Outpatient department), um in Raum 4 die orthopädischen Patienten zu sehen und zu behandeln. Dr. Ferdinand machte eine kurze Teepause, da noch zwei Operationen ausstanden, eine Stumpfrevision am Oberschenkel und eine Vorfußamputation.
Vom Drang nach Freiheit; Platos Höhlengleichnis
Im Teeraum saßen kubanische und einheimische Kollegen. Sie tranken Tee und schwiegen. Selbst der Kollege in der Chirurgie, der in Kuba auf der 'Insel der Jugend' in einem Heim aufgewachsen und dort zur Schule gegangen war und danach an der Universität in Havanna Medizin studiert hatte, sagte kein Wort, obwohl er sonst ein gut ansprechbarer und humorvoller Kollege war, der besser spanisch sprach als Oshivambo, die Sprache seiner Herkunft. Alle machten ernste Gesichter, als hätte ihnen das Leben eine schwere Bürde aufgegeben. Bei den kubanischen Kollegen konnten es auch Gedanken an die Freiheit gewesen sein, die in ihrem Lande stranguliert war. Da hatten einige die Gruppe verlassen. Einer, der als Urologe am Hospital in Windhoek arbeitete und der Gruppenleiter war, überquerte mit einem vom Ministerium zur Verfügung gestellten Auto die angolanische Grenze, meldete sich dort als politischer Flüchtling und setzte seinen Weg nach Luanda fort, wo er als Arzt seine Tätigkeit an einem Hospital aufnahm. Das Auto ließ er hinter der Grenze mit der grünen Nummernschildplatte eines Dienstwagens der namibischen Regierung zurück. Es wurde etwa zwei Wochen nach seinem Verschwinden von Angola nach Windhoek zurückgebracht. Dieser Kollege, der sich durch seine herzliche Freundlichkeit von seinen übrigen Kollegen unterschied, hatte Erfolg, der durch den dringenden Ärztebedarf in Angola nach dem langen Bürgerkrieg begründet war. Der Bedarf war so dringend, dass jeder Arzt willkommen war und mit Kusshand genommen wurde. Ein anderer kubanischer Kollege war ein Spezialist für Orthopädie, der anlässlich eines geplanten Heimaturlaubs in Toronto zur Überraschung der anderen das Flugzeug verließ, das dort kurz gelandet war und für den Weiterflug nach Havanna auftankte. Dieser Kollege lief mit seinem kubanischen Reisepass in der Hand zu den kanadischen Behörden im Flughafengebäude und meldete sich als politischer Flüchtling. Die anderen flogen ohne ihn und mit gemischten Gefühlen nach Havanna weiter. Der Kollege hingegen machte im Laufe eines Jahres seinen Weg nach Süden bis nach Miami in Florida, wo sein Bruder als Chirurg eine Privatklinik leitete. Es gab noch einen Fall, wo ein kubanischer Kollege und seine Freundin, die beide als Ärzte in den Norden abkommandiert wurden, die Urlaubsreise zu einer Reise nach Portugal benutzten, wo sie sich als politische Flüchtlinge registrieren ließen. Die Lehre aus der Geschichte war, dass die Urlaubsflüge von der Botschaft bei einer bestimmten Fluglinie organisiert und die ReiSpäße noch vor Besteigen des Flugzeugs von einem "zuverlässigen" Angehörigen der Botschaft eingesammelt wurden. Keiner verfügte über seinen Reisepass während des Fluges. Sie waren alle fest in der Hand am verlängerten Fidel'schen Arm. Man konnte die mächtige Faust auf die Tischplatte quasi krachen hören.
Der ukrainische Kollege leitete die Narkose bei dem Patienten zur Stumpfrevision am linken Oberschenkel ein. Es war ein älterer Mann, der sein Bein wenige Wochen vor der Unabhängigkeit durch eine Landmine verloren hatte. Bei der Explosion erlitt er außerdem Verletzungen im Gesicht und am linken Arm. Ein Splitter steckte in seinem linken Auge, das erblindet war. Er hatte Narben im Gesicht, von denen eine quer über den Nasenrücken lief. Eine andere Narbe zog vom Kinn bis zum rechten Ohr, dem ein beachtlicher Teil fehlte. Der linken Hand fehlten der Zeigefinger ganz und der Mittelfinger bis zur Hälfte. Aus dem Oberschenkelstumpf drückte sich der Knochenschaft durch den entzündeten Weichteilmantel durch. Die OP-Schwester war noch mit dem Abdecken beschäftigt, als Dr. Ferdinand gewaschen und mit grünem Kittel an den OP-Tisch trat und sich bei der Betrachtung des Stumpfes die OP-Handschuhe überzog. Der Tisch wurde mit dem Patienten hydraulisch gehoben. Die Schwester reichte das Skalpell. Dr. Ferdinand holte sich das 'grüne Licht' vom ukrainischen Narkosearzt, der mit "yes, yes, yes!" in schneller Folge sein Einverständnis gab, mit der Operation zu beginnen. Nach Setzen des Fischmaulschnittes wurde die Knochenhaut und Muskulatur mit einer Raspel nach oben geschoben und der exponierte Knochenstumpf mit der oszillierenden Säge um etwa sechs Zentimeter gekürzt. Der Knochenrand wurde mit einer Feile geglättet und die Lefzen des Weichteilmantels über dem Stumpf in Schichten vernäht. Der Narkosearzt sagte "okay?, okay!" und zog den Atemtubus aus der Luftröhre des Patienten. Der hustete, als Dr. Ferdinand ihm den Stumpfverband anwickelte. Mit jedem Hustenstoss stieß er den Stumpf hin und her, was das Anwickeln des Verbandes erschwerte. Schließlich wurde der Patient vom Tisch auf die Trage gehoben und mit der Sauerstoffmaske auf dem Gesicht in den Aufwachraum gefahren.
Eine junge Schwester wischte den Boden. Die OP-Schwester wusch sich die Hände, ließ sich den grünen Kittel überziehen, ging in den OP, öffnete das Instrumentensieb und legte die Instrumente auf dem erhöhten Tisch zurecht. Die Patientin zur Vorfußamputation, eine alte, hagere Frau, die über die sechzig gewesen sein musste, wurde in den OP gefahren und auf den Tisch gelegt. Dr. Ferdinand dachte beim Händewaschen an die vielen Füße, an denen er in den Jahren Operiert, Fremdkörper und Geschwülste entfernt und abgestorbene Zehen amputiert hatte. Auch gab es Situationen, wo der ganze Fuß oder große Teile von ihm entfernt wurden. Für die Freiheit des Menschen war der tragende Fuß unerlässlich. Er wusste um die Bedeutung des Fußes für die Würde des Menschen. Die Schwester zog ihm den grünen Kittel über. Er trat an den Tisch und dachte an die Würde des Menschen und seinen Drang nach Freiheit, als er sich den Fuß betrachtete, dessen Zehen bereits abgestorben waren, und darauf vertraute, dass die Vorfußamputation ausreicht und die Wunde verheilt. Er schnitt die Haut rings um den Fuß ein und durchtrennte die Streck- und Beugesehnen zu den Zehen. An der Fußsohle ließ er einen Hautlappen überstehen, der groß genug sein musste, als Weichteilmantel den Fußstumpf zu decken. Die MittelFußknochen wurden um über die Hälfte gekürzt und der Vorfuß abgesetzt. Der Hautlappen wurde von der Fußsohle über den Stumpf hochgeklappt und mit der Haut am Fußrücken vernäht. Dr. Ferdinand legte den Verband an und wünschte der alten Frau eine gute Wundheilung, da ihr sonst der Verlust des ganzen Fußes droht. Der ukrainische Narkosearzt sagte "okay!, okay!", als sie hustete, und zog ihr den Tubus aus der Luftröhre. Er fuhr die Patientin mit der Narkoseschwester in den Aufwachraum. Dabei hielt er ihr die Sauerstoffmaske aufs Gesicht und sagte noch etwas in einer Sprache, die keiner verstand.
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