1 ...8 9 10 12 13 14 ...21 Es war Mitternacht, als Ferdinand die Wohnung betrat, sich ins Bett legte und nichts mehr von diesem Vorfall wissen wollte. Der volle Mond schien durchs Fenster, erhellte die Wände und schwieg sich aus. Alles war geeignet für einen bösen Traum. Den gab es dann auch und verlief etwa so: Es war ein langgezogener Raum mit hoher Decke und hohen Fenstern, als wäre es ein Nebenraum im Schloss Sanssouci, das verdeutscht Schloss Sorgenfrei hieße. In dem Raum stand ein altes Bett von anno dazumal mit einem durchhängenden Baldachin. Alles war ziemlich verstaubt und in den Ecken der hohen Fenster spannten sich riesige Spinnnetze, die an einigen Fenster von einer Seite zur andern gingen. Das Weiß der verschnörkelten Stuckdecke und Wände hätte mindestens alle hundert Jahre erneuert werden müssen. So war das Stuckwerk gelblichgrau und rissig. An vielen Stellen fehlten Formstücke, die offensichtlich abgefallen und in jährlichen Abständen vom Boden weggefegt wurden. Der verzierte Dielenboden hatte einen matten Glanz und roch nach Bohnerwachs. Da war die Restauration aus Gründen des Geldmangels oder Geizes vonseiten des Besitzers oder anderer Abgaben für Kriege und bei Niederlagen durch das Muss der Befolgung von Anordnungen vonseiten der Besetzer sträflich vernachlässigt worden. Myriaden afrikanischer Heuschrecken trommelten gegen die Scheiben, als wäre es das Trommelfeuer bei der Schlacht um Stalingrad oder um die letzte Festung Berlin. Das Stöhnen verwundeter und Röcheln verblutender Soldaten war zu hören. Durch das fortwährende Trommeln gegen die Scheiben öffnete sich ein Fensterflügel, dem vor hundert Jahren oder länger ein Riegel beim Öffnen oder Schließen abgebrochen wurde. Nicht dem Hausmeister, Rennt- oder Zeremonienmeister wäre zu danken, dass sich dieser Flügel nicht schon vor hundert Jahren oder länger geöffnet hatte, was verheerende Folgen für Wände, Decke und Boden und besonders für Bett und Baldachin gehabt hätte. Es war dem Zufall oder irgendeiner schicksalhaften Bewegung zu verdanken, dass damals vor langer Zeit eine Hand das Fenster anlehnte, ob sie es war, die den Griff abbrach, wer wollte es jemals wissen (?), und das Fenster sich durch Molekülverschiebungen im Holz bei den jahreszeitlichen Klimawechseln von Feuchtigkeit und Trockenheit im Fensterrahmen festsetzte und verklemmte. Mit dem Öffnen des besagten Fensterflügels nach nicht nachlassenden, sondern weiter zunehmenden Trommelschlägen afrikanischer Heuschrecken gegen die Scheiben aller Fenster, kam es nun zur letzten Schlacht um Bett und Baldachin. In dichten Verbänden flogen sie durchs Fenster und besetzten das Baldachin, das durch die Schwere der Ladung nach unten durchhing. Die Wände waren von Schwärmen besetzt. Selbst am Deckenstuck hingen sie zu Tausenden und lösten lockere Stücke aus dem Verband, die auf die Diele fielen und das Bild der Verwüstung gaben. Es war ein Geklappere und Geschlage im Raum, den die Schwärme verdunkelten. Trotzdem hielten die Trommelschläge gegen die verschlossenen Fenster unvermindert an. Es war ein Kampf auf verlorenem Posten. Gegen diese Übermacht war nicht anzukommen, die Lufthoheit nicht zurückzugewinnen. Die Bodenschlacht nahm an Heftigkeit zu. Die Verbände auf dem Boden waren unübersehbar. Es wurde mit dem Schuh auf den Boden um sich geschlagen, dass es knackte und krachte. Dennoch war die Schlacht verloren und die Flucht war unausweichlich. Inzwischen haben die "Schrecken" die letzten Winkel besetzt. Sie stelzen über Kopfkissen und Lake und heben die Decke ab und schieben sie zur Seite. Die Flucht gestaltet sich dramatisch, weil es nichts mehr gab, was frei von diesen "Schrecken" war, die selbst in den Taschen der Hose knackten und krallten und in der Hemdstasche ein und aus staksten und stakten. Es blieb nichts anderes übrig, als barFuß und nackt auf die dichten "Schreckens"-Verbände zu treten, gegen die fliegenden Schwärme anzurennen und sich durchzuschlagen und mit dem letzter Kraft aus dem offenen Fensterflügel gegen die weiter eindringenden "Schreckens"-Massen in die Freiheit zu springen, egal ob man den Sprung überlebt oder nicht. Da gab es nichts anderes als den nackten Sprung nach den Gesetzen des freien Falls (Traumende).
Was aus den schlaff hängenden Spinnnetzen, der bröckelnden Stuckdecke, den rissigen, gelblich grauen Wänden und dem quietschenden Bett im Quadratformat mit der durchgelegenen Matratze und dem verstaubten, durchhängenden Baldachin geworden ist, wusste niemand. Die Kenntnis entzog sich der Nachforschung, weil nach dem Einfall der afrikanischen Heuschrecken ein neuer Verschlussriegel am Fenster angebracht, das Fenster geschlossen, alle Fenster geputzt, Stuckdecke und Wände restauriert, der Raum weiß gestrichen und die Bodendielen frisch gebohnert und poliert worden war.
Ferdinand hatte geschwitzt. Die Hähne krähten den Mittwoch ein. Ferdinand stand unter der Brause, als gegen sechs Uhr das Telefon klingelte und die Schwester vom 'Outpatient department' von einem Verletzten berichtete, der nach einem Verkehrsunfall gebracht wurde. Dr. Ferdinand trocknete sich ab, zog sich an und eilte zum Hospital. Der Sonnenball glühte, als er hinter dem Horizont hervorkam und sich weiter erhob. Die roten Strahlen brachen sich in den beiden Fenstern der 'Intensiv'-Station, als er den Vorplatz überquerte und das OPD betrat. Es war ein junger Mann von etwa dreißig, der auf der Trage lag. Er hatte multiple Hautschürfwunden im Gesicht und an den Armen. Zudem hatte er sich das rechte Fußgelenk gebrochen. Der Fuß war jedoch nicht disloziert. Die Verletzungen waren also nicht schwer. Dr. Ferdinand fragte die Schwester, warum sie ihn gerufen hat, da diese Verletzungen vom ersten Dienst behandelt werden konnten. Die Schwester berichtete, dass die Kollegin sich den Patienten kurz angesehen hatte. Als sie die Knöchelverletzung sah, beauftragte sie die Schwester, den Kollegen vom chirurgisch-orthopädischen Dienst zu rufen, und verschwand. Es war eine junge Kollegin, die während des Exils in der Sowjetunion Medizin studierte. Sie hatte noch nicht einmal das Röntgenformular ausgefüllt und den Patienten zum Röntgen geschickt. Auch hatte sie nicht die Hautschürfwunden gesäubert und mit an den Armen mit sterilen Verbänden abgedeckt. Sie kam, sah das Fußproblem und ging. Was war das für eine Einstellung? Da war nichts von Hingabe oder Interesse zum Beruf. Da war die Tätigkeit eher eine Last. Der Dienst am Menschen war ohne Gefühl, ohne Zuneigung. Da war der Beruf mit dem hohen Ethos zum inhaltsleeren Job verwahrlost. Dr. Ferdinand sandte den Patienten zum Röntgen, sah in der Zwischenzeit die Patienten auf der 'Intensiv'-Station und den anderen Stationen. Dann ging er zum OPD zurück, studierte das Röntgenbild, richtete das Fußgelenk ein und stellte den Fuß in einem Unterschenkelgips ruhig. Als er noch beim Anlegen des Gipsverbandes war, dachte er an seine Lehrjahre zurück, wo ihm ein erfahrener Pfleger das Gipsen beibrachte. Der konnte es oft besser als viele der Doktoren, die sich einbildeten, es zu können. Als junger Assistent hatte er sich aber darum bemüht, einen Bruch einzurichten und einen Gipsverband richtig anzulegen. Nun bemühten sich die jungen Ärzte nicht einmal darum, das Richten einer Fraktur und das Anlegen eines Gipsverbandes zu lernen. Was waren das für Ärzte, die da kamen und gleich wieder gingen, wenn es ein kleines Problem zu lösen gab? Hatten sie die Scheu vor der Verantwortung im Exil gelernt?
Dr. Ferdinand säuberte noch die Hautschürfwunden und wickelte sterile Verbände an den Armen an. Die Schwester verabreichte die Spritze gegen den Wundstarrkrampf, und die Krankenpfleger fuhren den Patienten auf der Trage zum orthopädischen Männersaal. Dr. Ferdinand machte sich auf den Weg zur Morgenbesprechung, zu der er sich bereits verspätet hatte.
Der Raum des Superintendenten war bis auf den letzten Platz gefüllt, so dass sich Dr. Ferdinand einen Stuhl aus dem Sekretariat holte und sich neben die Tür setzte. Stoischer Gleichmut lag auf den Gesichtern der Teilnehmer. Bei einigen war sogar ein Gelangweiltsein im Gesicht zu lesen. Dabei hielt der Superintendent eine Rede über die ärztliche Verantwortung bei der Arbeit am Patienten. Da waren die Pünktlichkeit bei der Arbeit, die ordentliche Visite, die Eintragungen im Krankenblatt, das Einhalten der Disziplin, nicht vorzeitig das Hospital zu verlassen, und anderes herauszuhören. Die Matronen nannten die Unfreundlichkeit einiger Kollegen und Kolleginnen den Schwestern gegenüber, das Problem, den diensthabenden Arzt in der Nacht und am Wochenende zu erreichen, und das unerlaubte Essen von Angehörigen der Ärzte in der Kantine. Beim Vorbringen dieser Punkte dachte Ferdinand an die Morgenbesprechungen vor der Unabhängigkeit, bei denen der Superintendent in Majorsuniform und der hemdsärmelige Superintendent mit der roten Nase und der verrutschten Brille mit den verschmierten Gläsern ihre Monologe über das erhöhte Sicherheitsrisiko durch das angebliche Einsickern von Swapo-Kämpfern und Polit-Aktivisten gehalten hatten, ohne je einen Beweis für diese Behauptung zu bringen. Er erinnerte sich gut an den Morgen, als der ärztliche Direktor in Colonelsuniform und der Brigadegeneral in den Raum kamen, und der kurze Superintendent in Hemdsärmeln von seinem Tisch aufsprang, um die militärischen Größen zu begrüßen, wie der junge Leutnant Dr. Hutman, der auch den Namen: der Leutnant des Teufels trug, aufsprang und einen frisch angekommenen, noch jüngeren Kollegen in Uniform mit hochriss, um den hohen Offizieren ihre Stühle praktisch unter ihre Hintern zu schieben. Damals hielt der Brigadier einen langen Monolog über die kritische Sicherheitslage des Dorfes und sprach auch von den unterschlüpfenden Swapo-Kämpfern im Hospital, wofür er den Beweis aus "Sicherheitsgründen" nicht brachte und, wie sich später herausstellte, nicht bringen konnte. Er sprach fast pathetisch von der letzten Entscheidungsschlacht, bei der für alle viel auf dem Spiel stehe. Er sagte, dass alle Weißen einschließlich ihm selbst auf einem Pulverfass sässen, das jederzeit hochgehen könne. Das Pulverfass ging schließlich hoch, das weiße Kommandoschiff versank, und das schwarze Kommando fasste Fuß und nach den Hebeln der Macht. Nun waren es Probleme der Bequemlichkeit und Disziplin, die besprochen wurden, weil es an der Pünktlichkeit zur Arbeit, an der Ehrlichkeit des Einsatzwillens, an der Freundlichkeit anderen Menschen gegenüber und an der Leistung mangelte. Dr. Ferdinand hatte Schwierigkeiten, das zu verstehn. Er ging davon aus, dass die jungen, schwarzen Ärzte mit einer hohen ethischen Einstellung aus dem Exil zurückkamen und alles daransetzten, am Patienten und zum Wohle der Menschen zu arbeiten. Das nahmen auch die Patienten an, die in den zurückgekehrten Ärzte den gebildeten Teil ihres Volkes sahen. Beide sprachen bis zum Gang ins Exil dieselbe Sprache und teilten dasselbe Elend und dieselbe Not. Die Erkenntnis erschütterte daher die Erwartung, die an diese Ärzte gestellt wurden: pünktlich bei der Arbeit zu erscheinen und verantwortlich und mit vollem Einsatz am kranken Menschen zu arbeiten. Einige taten es auch in vorbildlicher Weise. Doch andere taten es nicht. Und weil es auffiel, dass andere eine Laxheit an den Tag legten, die die Zusammenarbeit behinderte, kamen nun Dinge zur Sprache, über die eigentlich nicht gesprochen werden sollte, wenn jeder ehrlich und selbstkritisch zum ärzlichen Beruf stände und die Zeichen der Zeit zum Anlass nähme, wach zu sein und die eigenen Schwächen zu überwinden, die Wissenlücken durch Lernen zu schließen und sich voll für das Wohl der Menschen einzusetzen. Das musste nun in den Morgenbesprechungen vom Superintendent gesagt werden, als spräche er zu Kindern in der ‘primary school’. Es war beschämend und warf Schatten über den Weg, der gemeinsam in die Zukunft zu gehen war. Dass dann die Matronen noch erwähnten, dass Angehörige in der Kantine aßen, die dazu nicht berechtigt waren, machte die Sache mit der Ehrlichkeit noch fraglicher.
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