“Du lebst hier?”, fragte Toby vollkommen baff.
“Natürlich nicht. Ich lebe mit meinen Eltern in einem Haus. Hier schlafe ich nur, wenn ich bis in den späten Abend arbeite. Manchmal sortiere ich nachts noch Bücher für die Bibliothek, da habe ich keine Lust mehr, nach Hause zu laufen.” Nora bückte sich und zog eine kleine Taschenlampe unter ihrem Kopfkissen hervor. Sie ließ sie einmal aufleuchten. “Folgt mir in den Keller”, sagte sie.
6
Sie liefen die Treppe hinab - diesmal mit einem umherspringenden Lichtkegel vor den Füßen - und erreichten eine schwere, graue Feuerschutztür, die so kompromisslos vor ihnen aufragte, wie die Tür zu einem Atombunker. Nora holte einen gewöhnlichen Schlüssel hervor, schloss sie auf und zog an der Klinke. Dabei drückte sie die Fersen auf den Boden und stemmte sich nach hinten wie ein Seilzieher. Toby griff sich die Türkante beim ersten schmalen Spalt und zog sie ganz auf.
“Puh”, sagte Nora, als die Tür aufschwang. “Wir lagern hier eine ganze Menge Kulturgut.” Sie leuchtete ins Dunkel. “Alle unersetzbaren historischen Dokumente lagern hier in feuerfesten Panzerschränken.” Sie leuchtete zur Demonstration die breiten Metallschränke an, die hier zwischen den Betonsäulen standen. Die Luft war kalt und ausgesprochen trocken. Sie fühlten es in der Nase und im Rachen.
Cassandra fühlte sich wie in einer Gruft, und im Grunde war es auch nichts anderes. Eine moderne Gruft, die nicht Menschenleichen enthielt, sondern Dokumentenleichen.
“Hier unten lagern auch Zweitexemplare der Zeitungen, die ihr oben gesehen habt”, erklärte Nora weiterhin, während sie tiefer in den höhlenartigen Raum gingen. “Da hinten ist der Elektroraum.”
Toby versuchte, dicht am Lichtkegel von Noras Taschenlampe zu bleiben. Er fühlte sich hier ausgesprochen unwohl. Dieser Keller war noch viel unheimlicher als die anderen Stockwerke. Selbst nach der schweißtreibenden Hitze, die draußen herrschte, war es hier nicht angenehm kühl, sondern regelrecht bedrohlich kalt. Die Luft stand senkrecht im Raum ohne den kleinsten Luftzug. Das Atmen fiel schwer, und überall um sie herum schien die Dunkelheit sie zu umkreisen und näher zu rücken, sobald Nora die Taschenlampe schwenkte. Wenn jetzt auch noch ein unheimliches Geräusch ertönte, würde Toby wahrscheinlich vor Schreck aufschreien. Aber da er es schon erwartete, ging der Schreck an ihm vorbei, als das Geräusch tatsächlich ertönte. Genau hinter ihnen klickte es.
Cassandra trat neben ihn und sagte vollkommen gelassen: “Die Tür ist ins Schloss gefallen.”
Ach ja, die verdammte Tür. Sie war so schwer, dass sie erst ins Schloss gefallen war, als sie den Raum schon zur Hälfte durchquert hatten.
Nur ist hoffentlich nichts durch diese Tür hereingekommen, bevor sie zufiel , sagte eine fiese Stimme in Tobys Kopf, und er zwang sie mit aller Kraft zu schweigen.
Nora schien von alldem nichts mitzubekommen. Wie eine hübsche Magd mit einer Laterne in der Hand plauderte sie munter weiter: “Eigentlich hätte ich vorsichtiger sein müssen. Es ist meine Schuld, dass der Strom ausgefallen ist. Ich habe oben in meinem Büro drei Ventilatoren angeschlossen. Ich dachte, ich könnte vielleicht eine Art Luftzirkulation herstellen. Die Sicherungen halten das im Allgemeinen aus, aber da habe ich den Computer von Mrs Thorne eingeschaltet und Kaffee aufgesetzt und naja... als ich mein Radio eingeschaltet habe, ist die Sicherung rausgeflogen.”
Sie erreichten die zweite Stahltür an der gegenüberliegenden Seite des Kellers. Ein Schild mit der Aufschrift
VORSICHT
STARKSTROM
war daran befestigt.
Cassandra wunderte sich über Noras Erklärung für den Stromausfall. “Müssten hier nicht getrennte Sicherungen sein? Die können doch nicht alle gleichzeitig ausfallen.”
Nora schloss die Tür auf. “Wir haben wirklich getrennte Sicherungen. Die Klimaanlage hier im Keller hängt an einer. Und das Gerät, das die Luft trocken hält an einer anderen. Der Kurzschluss betrifft nur die oberen Stockwerke.” Nora leuchtete in den Elektroraum hinein. “Wenn ich ehrlich bin, war ich noch nie hier drin. Es summt ganz merkwürdig.”
Cassandra stellte sich neben Nora und versuchte dem tanzenden Lichtkegel zu folgen. Sie sah dicke Kabelstränge, die zu komplizierten Schaltkästen führten, sie sah Back-Up-Festplatten und skelettartige Serverregale, und hunderte von kleinen grünen Lämpchen. Manche waren auch gelb oder rot. Und überall Summen. Die Härchen an Cassandras Armen stellten sich auf.
“Wie sollen wir den richtigen Sicherungskasten finden?”
“Wir schauen einfach mal. So viele können es ja nicht sein”, sagte Nora.
Sie fanden den Kasten nach einer Minute. Die Elektriker hatten alle Sicherungen beschriftet. Allerdings hatte Nora sich geirrt. Kein Mensch hängt vier Stockwerke mit Dutzenden von Stromleitungen an eine Sicherung. Beinahe jede Leitung hatte ihre eigene Sicherung, und die meisten davon waren rausgesprungen. Viele der kleinen Plastikschalter zeigten nach unten.
“Also das war ich bestimmt nicht”, sagte Nora.
“Glaubt ihr, jemand hat die absichtlich ausgeschaltet?” In Tobys Stimme lag eine Spur Nervosität.
“Das ist nicht möglich. Die Tür war abgeschlossen und ich habe alle Schlüssel.”
“Wahrscheinlich hat eines der Starkstromgeräte gesponnen. Bestimmt war es ein Stromstoß, oder etwas in der Art.” Cassandra hatte nur wenig Ahnung von Elektrik, aber sie glaubte ohnehin nicht an das, was sie gerade gesagt hatte. Vielmehr dachte sie: Jemand wollte es hier dunkel haben. Ob seine Tricks im Dunkeln besser funktionieren? Schließlich waren die Puppen damals verschwunden, als die Whitfield das Licht eingeschaltet hatte. Wie habe ich es eigentlich geschafft, dieses Ereignis so vollständig zu vergessen?
Cassandra hörte den anderen nicht mehr zu.
Worauf wird das im Endeffekt hinauslaufen? Wer verursacht das alles?, dachte sie.
(Das Auge, Comtessa. Denk an das Auge!)
Sie fühlte sich mulmig. Zum ersten Mal kam ihr in den Sinn, dass sie vielleicht persönlich bedroht wurde. Ihr ureigenes Selbst. Ihre körperliche Unversehrtheit .
Das ist was persönliches, Comtessa. Hier hat´s jemand auf dich abgesehen.
Aber wer?
(Der Stier mit den Augen einer Ziege)
Aber wieso?
... keine Antwort.
Eine unglaubliche, elementare Angst schlich sich in Cassandras Eingeweide. Sie hatte das alles als eine Art Horrorabenteuer gesehen, das sie zwar gruselte, aber auch amüsierte. Jetzt auf einmal diese dreiste Bedrohung ihres innersten Selbst zu spüren, war schrecklich.
Und was hatte Toby damit zu tun? Ich habe ihn doch gerade erst kennengelernt.
Das Aufflackern des Lichtes, riss Cassandra aus ihren Gedanken. Der Strom war wieder da, nachdem Nora alle Sicherungen nach oben geklappt hatte. Sie schirmten ihre Augen ab, und warteten, dass sie sich an das Licht gewöhnten. Ein paar Sekunden lang sagte niemand etwas, und Nora hatte Gelegenheit, sich ihre neuen Freunde genauer anzusehen.
Was Toby anging, fand Nora ihn auf eine pausbäckige Art attraktiv. Er war kein Frauenschwarm, aber nah dran. Wenn er drei oder vier Kilo abnahm, wäre seine Kinnpartie deutlich scharfkantiger und maskuliner. Und das würde seinen Marktwert enorm steigern. Allerdings hakte Nora ihn als zu jung für sich ab.
Im Vergleich zu ihm, spielte Cassandra in einer deutlich anderen Liga.
Die Frau ist schön wie schwarzer Schnee in einem russischen Märchen. Was würde ich dafür geben, im schonungslosen Neonlicht so auszusehen.
Nora hatte zuvor schon Cassandras dichte Präsenz gespürt, und im grellen Neonlicht, wurde diese Präsenz nicht im Ansatz gemindert. Cassandra schien Licht regelrecht zu absorbieren. Möglich, dass es am dunklen Haar lag, oder an dem Kleid, aber da existierte auch etwas anderes, nicht sichtbares. Vielleicht ihre Aura, wer weiß. Ihre Haut konnte es nicht sein, denn die war sehr hell und porenlos.
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