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Roman
Der Traum von Tibet
Fariba Vafi
Aus dem Persischen
von Jutta Himmelreich
Originalausgabe:
Roya-ye Tabat
Nashr-e-Markaz Publishing, Teheran
1. Auflage 2005
Die Übersetzung aus dem Persischen wurde mit Mitteln des Auswärtigen Amtes unterstützt durch
Litprom - Gesellschaft zur Förderung der Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika e.V.
CIP - Titelaufnahme in die Deutsche Nationalbibliothek
Vafi, Fariba
Der Traum von Tibet
Aus dem Persischen von Jutta Himmelreich
ISBN 9783962026103
© der deutschen Ausgabe 2018 by Sujet Verlag
Umschlaggestaltung: Ina Dautier
Satz und Layout: Joëlle Stüben
Lektorat: Jutta Himmelreich
Druckvorstufe: Sujet Verlag, Bremen
Printed in Europe
1. Auflage 2018
www.sujet-verlag.de
Schiwa! Steh auf. Du hast’s verbockt. Sonst bin immer ich diejenige, die Mist baut. Diesmal warst du’s. Wer hätte je auch nur im Traum geglaubt, dass die brave, vernünftige Schiwa zu sowas imstande ist? Das grelle Blitzlicht der Kamera hatte uns alle für einen Augenblick versteinert. Seitdem weiß ich, dass Verblüffung sich bei jedem Menschen anders zeigt. Djawid, mit scheinbar vor Schmerz verzerrtem Gesicht, hat ausgesehen, als würde er jeden Moment die Beherrschung verlieren. Mama, die ihren Augen nicht zu trauen glaubte, hat forschende Blicke zwischen dir und mir hin- und hergeschickt. Ich stand in meiner langen traditionellen Tracht stocksteif da, wie die Kleiderpuppen in Schaukästen von Heimatmuseen, meine Arme weit offen, der Blick starr. Wie die anderen aussahen, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls war’s ein lebendiger Haufen, lebhaft und laut. Die Stille, die von einer Sekunde auf die andere eintrat, blieb mir noch lange im Ohr. Völlige Stille, als alle reihum ihre Münder geschlossen haben, weil sie genau sehen wollten, was sich da vor ihren Augen tat.
Ich frage mich allerdings, wie du, die seit jeher stärker unter Beobachtung gestanden hat als alle anderen, über die vielen neugierigen Blicke hinwegsehen konntest. Du hast sie glatt alle missachtet und wurdest dafür wohl mit einem Schlag blind. Man hat dir deine unbändige Freude angesehen, stille, ungetrübte Verzückung. Gestrahlt hast du, übers ganze glänzende Gesicht, und schienst von weit entfernt spielender Musik bezaubert. Wie gut ich diesen Zustand kenne. Dieses Hochgefühl der Liebenden, die ihr Bett mit ihrem Auserwählten teilt. Die leichte körperliche Anspannung, die sanfte Benommenheit. Ich dachte damals, dieser Zustand sei allen Frauen vertraut, von Geburt an, selbst wenn sie ihn über Jahre hin verbergen müssen oder überhaupt nie die Gelegenheit bekommen, ihn offen zu zeigen. Manche haben dieses Glück wirklich nie, dir blieb es sechzehn Jahre lang verwehrt. Du und Djawid, ihr habt euch in euer Schlafgemach zurückgezogen wie zwei Mönche, einer uralten Tradition getreu. Vielleicht auch nur, um eine Kerze anzuzünden. Ohne Yalda und Nima wäre diese Lesart die wahrscheinlichere. Wer euch im Laufe eines Tages beobachtete, der sah nie zärtliche Gesten, keine Anzeichen für eine liebevolle Beziehung, die verraten hätten, dass zwischen euch Dinge passieren, die euch Freude machen. Djawid war nicht der Typ Mann, der seiner Frau in die Küche folgt, hinter ihr stehenbleibt und sich an sie schmiegt. Und du warst nicht die Sorte Frau, die sich bückt, vorgeblich, um irgendwas vom Boden aufzuheben, tatsächlich aber, damit man ihr in den Ausschnitt schauen kann. Forough wandte diesen Kniff gern an, wobei ihr völlig egal war, dass ihr Dekolleté an die in so mancher Schusterwerkstatt hängenden Lederlappen erinnerte.
Mama hat erzählt: „An dem Tag, als Schiwa mit Djawid das Haus verlassen hat, konnten wir kaum fassen, dass sie in die Flitterwochen fährt. Wir dachten, sie geht zu einem ihrer Volleyballturniere, wie immer.“
Deine Mitgift bestand aus einer einzigen, nun schon seit Ewigkeiten vertrockneten Blume, und du hast Djawid immer gern mit dem Spruch aufgezogen: „Mich gib frei, die Mitgift sei dein.“ Er konterte regelmäßig: „Pflück dir im Hof ein Blümchen und geh.“ Einer eurer Dauerbrenner, über den eure Freunde euch zuliebe jahrelang gelacht haben.
Djawid hat mit einem Gedicht von Arash Kamangir um deine Hand angehalten. Sein Vortrag kam dir damals ziemlich langatmig vor, hast du gesagt. Und dass Djawids Wortgewalt dich von Anfang an beeindruckt hat. Wenn ich Djawids markanten Unterkiefer sah, dachte ich jedes Mal: Menschliche Fantasie übertrifft Schönheitschirurgie.
„Er hat pure Entschlusskraft ausgestrahlt, vom Scheitel bis zur Sohle“, hast du gesagt. Hast von Überzeugungen gesprochen und beteuert, ein Mann ohne Überzeugungen sei wie ein Fisch ohne Gräten. Ohne Rückgrat. Dabei hatte Djawid jede Menge Knochen, so schlaksig hoch aufgeschossen und knochig wie er war, auch wenn Sadegh, einst als „Das Gerippe“ berühmt, ihm damals den Rang ablief.
Djawid sagte damals immer: „Er ist zwar nur Haut und Knochen, aber beinhart.“
„Sadegh besteht doch aus nichts als Fleisch und Fett“, meinte ich, kam, ihn imitierend, als beleibter General in Zivil ins Zimmer und ließ meine massige Gestalt in einen Sessel fallen.
„In solchen Momenten seid ihr beiden Schwestern euch total ähnlich“, hat Mama lachend gesagt.Und ich hab gefragt: „Wie sind wir denn?“
Woraufhin Djawid den Kopf über den Halbkreis seiner Zeitung hinweg gehoben und geantwortet hat: „Außen strenger Richter, innen wirrer Clown.“
Er hat sich in die Brust geworfen, stolz wie immer, wenn er fand, dass er den Nagel auf den Kopf getroffen hatte.
Du hast mal gesagt: „Sadegh war früher schlank, schlanker sogar als Djawid.“
Und Djawid hat bekräftigt: „Beim Bergwandern war er ausdauernder als wir alle zusammen.“
Mich hat das noch nicht überzeugt. „Nenn mir Eigenschaften, die ein Kamel nicht hat.“
Mama hat genickt. „Er ist ganz zahm.“
Ich hab geseufzt und hatte ein Pferd vor Augen.
Djawid hat die Zeitung beiseite gelegt. „Die Jugend von heute hat nur Äußerlichkeiten im Kopf.“
„Ich bitte dich. Was sollen wir denn sonst im Kopf haben?“, hab ich gemurmelt.
Djawid hat meine Frage überhört, und ich hab sie neu formuliert: „Was übersehen wir denn?“
Um mir das zu erklären, brauchte er eine ganze Stunde.
Du hast es in ein Wort gefasst: „Geist.“
Dieses Wort, aus deinem Mund, kam dem Fund eines Fläschchens Parfüm unter hundert Fläschchen Arznei gleich. Ich hab gestaunt. Genau wie damals, als ich das Buch über Traumdeutung unter deinem Kopfkissen entdeckt hatte.
„Wir Glückspilze“, hab ich gesagt. „Endlich halten Geister auch bei uns Einzug.“
„Stimmt das wirklich, Tante Scholeh?“, hat Nima gefragt und von seiner Modelleisenbahn aufgeschaut.
Bei mir und Mama waren sie seit jeher zuhause. Frei und ungebunden gingen sie ein und aus, gehörten ganz selbstverständlich zur Familie. Sie tauchten in unseren Träumen auf, waren kein bisschen bedrohlich. Papas Geist erschien Mama hin und wieder im Traum, und ständig beschwor sie den Geist dieses oder jenes Mitmenschen. Sie fand, auch der Geist eines Menschen trage menschliche Züge und habe Persönlichkeit, und auch ihm gebühre Respekt. Weil sie daran glaubte, galt Mama als abergläubisch, ich als versponnen, als gespaltene Persönlichkeit.
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