„Dafür gehst du tief gebeugt, damit niemand dein Erbsenbrett sieht“, hab ich dir entgegengehalten. „Schau dir von deiner Schwiegermama lieber was ab.“
Woraufhin du klargestellt hast: „Ich wollte anderen immer ein Vorbild sein. Noch bin ich nicht so weit, dass ich mir von einer einfachen, affektierten Frau etwas abschaue.“
„Affektiert, wieso?“
„Komm, schnell.“
Du bist zum Bus gerannt. Hast einer Frau einen Fahrschein abgekauft, bist hinten eingestiegen, wie sich das für uns Frauen gehört, und hast dein Ticket einem Mann gegeben, der’s weitergereicht hat, bis nach vorn zum Fahrer. Du hast dich hingesetzt und hast mich am Arm gefasst. Außer Atem.
„Wir hätten auch ein Taxi nehmen können“, hab ich gesagt.
Deine Hand war heiß. Du warst anders als sonst. Heute weiß ich, mein Gefühl hat mir schon damals etwas gesagt, das ich erst Jahre später verstanden habe.
Ich hab dich gefragt, warum du so entspannt wirkst.
„Wo ist Djawid?“
„Mit den Kindern bei Sadegh.“
Als der Gelenkbus um eine Kurve fuhr, hat ein uns gegenüber sitzender Mann grundlos gelächelt.
„Endlich ist er frei.“
„Schade, dass seine Mutter das nicht mehr erlebt“, hab ich gesagt.
Djawid hat immer erzählt: „Sadeghs Mutter war uns allen eine Mutter. Eine Löwin. Früh verwitwet, hat sie ihre fünf Kinder allein großgezogen. Hat sich abgerackert, damit alle fünf studieren konnten. Zwei sind im Knast gelandet. Einer kam gar nicht mehr nach Hause. Die anderen leben im Ausland.“
„Wann ist er freigekommen?“
„Vor ein paar Tagen.“
Ich hab mir ein Ende meines Kopftuchs vor den Mund gehalten. Gegen den unerträglichen Abgasgestank.
„Ich hab ihn einmal besucht, hab mich vermummt und den Ausweis seiner Schwester gezeigt. Mir wär’s fast hochgekommen. Viel hat nicht gefehlt. Über die Luft in Haftanstalten hat bisher noch niemand berichtet. Es stinkt, als hätten Hunderte Menschen aus lauter Trostlosigkeit auf einmal gegähnt, und jemand hätte schnell alle Türen geschlossen, damit der Mief nicht rauskann. Wir waren beide verblüfft, er und ich, jeder auf seiner Seite der Scheibe. Er konnte kaum fassen, dass ich ihm draußen gegenüber saß, und ich hab mich gefragt, weshalb er dort drin sitzen muss. Hinter Mauern, Gittern, Panzerglas. Total ungerecht.“
„Und dann?“
„Dann hab ich ihm gesagt, er soll sich um seine Mutter keine Sorgen machen. Ich und Djawid besuchen sie regelmäßig. Mehr nicht. Stattdessen hat er geredet. Hat jede Sekunde genutzt. Wieder draußen, war ich beruhigt. Eine Woche drauf ist seine Mutter gestorben. Wir haben ihren Kindern die Nachricht überbracht.“
„Keines ihrer Kinder war bei ihr?“
„Nein, nur ich saß an ihrem Bett.“
Schiwa! Steh auf. Ich will dir sagen, wie mir an dem Morgen in dem eiskalten cremefarbenen Wagen zumute war. Ich war benommen, vor Kälte, vor Müdigkeit. Und was ich im Laufe der Nacht zuvor hundert mal getan hatte, war jetzt schwierig, ja unmöglich geworden. Jetzt wollte ich das Feuer nicht mehr, um mich oder Mehrdad anzuzünden. Jetzt brauchte ich’s, um mich zu wärmen.
„Ich schalte die Heizung ein, dann wird dir warm“, hat er leise gesagt.
In einer Seitenstraße hat er gehalten. Die Leuchtreklame der Praxis am Anfang der Straße brannte noch. Ich soll mich nicht aufregen, hat er gesagt, soll alles in Ruhe bedenken, und dass er mich absetzt, wo ich will. Er hat die Hand vom Schaltknüppel genommen und sich in seinem Sitz bequem zurückgelehnt. Er gehört zu denen, die stundenlang irgendwo sitzen können, ohne sich zu langweilen.
Ich hab in meiner Manteltasche gekramt. „So viele Möglichkeiten auf der Welt, um Feuer zu machen“, hab ich gedacht, „und ich hab bloß eine Schachtel Streichhölzer dabei“. Aus Djawids Aschenbecher mitgenommen. Krampfhaft hab ich sie umklammert und gedacht: „Noch kann ich was machen“. Aber wo war Mehrdad? Morgens um die Zeit schlief er noch. Wenn er jetzt wach würde, würde ihm noch vor dem Aufstehen einfallen, dass er die Braut abholen muss, mit dem Auto. Und diese Braut war nicht ich.
Obwohl er am Abend zuvor noch betont hat, ich sei seine wahre Braut. Er hat seinen Teller beiseite geschoben und mir über den Tisch hinweg beide Hände entgegengestreckt. Ich hab meine unterm Tisch in Sicherheit gebracht, beide, für ihn unerreichbar. Er hat sein Essen nicht angerührt, hat beteuert, er wird fortan unglücklich sein. Unbeschwert, lebhaft wie jemand, der glücklich ist, hat er das von sich gegeben. Ich bin aufgestanden und vor die Tür gegangen. Er hat an der Kasse bezahlt und kam nach. Ich hab am Straßenrand auf ein Taxi gewartet, spät abends. Mehrere Autos haben angehalten, in keines bin ich eingestiegen. Ein Wagen stand wartend, etwas abseits. Die helle Restauranttür im Blick, hab ich inständig gefleht, Mehrdad möge schnell nach draußen kommen.
Und endlich ist er auch aufgetaucht. Hat vor der Tür seinen Mantel übergestreift, hat zerstreut nach links geschaut, nach rechts, hat dabei suchend seinen Mantel abgetastet, wie jemand, der sich vergewissern will, dass er sein Geld und seinen Autoschlüssel bei sich hat, und sah aus wie ein gut situierter, verheirateter Mann, der eigentlich wichtigere Sorgen hat.
Ich gehe los, höre seine Schritte hinter mir. Er folgt mir schnell, holt mich ein, fasst mich am Arm, und wir gehen ein paar Schritte nebeneinander her. Sein neues Leben sei reine Formsache, sagt er, wir könnten doch weiterhin zusammensein. „Ich bin nicht deine Gespielin!“, schreie ich ihm ins Gesicht.
Ein Geschäftsinhaber, der eben seinen Laden abschließt, dreht sich zu uns um und starrt uns an. Mehrdad drückt meinen Arm, heftiger als sonst. Vermutlich ärgert er sich über mich, wie damals, als ich auf der Verlobung eines seiner Freunde getanzt und inmitten von Festgästen gesungen habe.
Nach all den Monaten, die wir uns kannten, hab ich ihn erstmals wieder so angespannt gesehen wie damals. Ich bin mit dem Finger am Schaltknüppel entlanggefahren, langsam abwärts, bis kurz vor seinen Oberschenkel. Normalerweise hat ihm das ein Schmunzeln entlockt. Diesmal stand ihm der Sinn wohl nicht danach. Ich hab den Finger ein Stückchen weiter abwärts bewegt. Mein Nagellack hat geglänzt. Mehrdad ist rechts rangefahren, weil er mir unbedingt seine Traumfrau beschreiben wollte.
„Tu dir keinen Zwang an“, hab ich gesagt.
„Meine Traumfrau weiß genau, wie sie sich wann zu verhalten hat.“
Was sollte das denn heißen? Ich hab meine Hand zurückgezogen.
„In der Küche, zum Beispiel, ist sie Hausfrau, im Wohnzimmer nicht Köchin, sondern Dame. Im Studierzimmer ist sie klug und bedacht, und im Schlafzimmer …“
„… Schlampe“, hab ich ihm verächtlich das Wort abgeschnitten.
Aus der Fassung gebracht hat ihn das nicht, aber er hat sich müde übers Steuer gebeugt.
„Eine Frau, die meint, sie muss auch im Schlafzimmer die vergeistigte Philosophin geben, hat keine Ahnung.“
Und auf einen Schlag war in dem Auto alles nur noch ein Spiel. Ich weiß nicht mehr, wie lang ich dort noch gesessen habe, aber mir war inzwischen immerhin warm geworden. Ein alter Mann war vorbeigegangen, hatte ein Fladenbrot mit beiden Händen wie einen Schutzschild vor sich hergetragen. Kurz drauf war eine Frau dahergehumpelt, hat sich gebückt und ganz ungeniert ins Auto gestiert wie in eine tiefe Höhle. Erst in dem Moment fiel mir wieder ein, dass wir nicht allein waren. Ich saß neben einem schweigenden Mann, sah ihn an, und mein Gesichtsausdruck mochte ihn dazu bewegt haben, „Mach’s dir bequem“ zu sagen.
Seine Einladung hatte wohl wirklich entspannende Wirkung. Plötzlich schien mir alles wertlos. Nichts hatte mehr Sinn. Ich hab die Schachtel Streichhölzer zerdrückt und bin hemmungslos in Tränen ausgebrochen.
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