Grazia Deledda
Der Traum des Hirten
Es ist eine Weihnachtsnacht, durchsichtig und frisch, wie eine klare Herbstnacht. Ein Wasserlauf schlängelt sich erst breit durch die die schwarzen Stoppeln, dann wird er schmäler, entschwindet all mählich dem Gesichtskreis, wie ein silbriges Leuchten, und löst sich schließlich in ein blaues Dunstmeer auf, in eine große leere Weite . . .
Es sind die ersten Stunden in der Nacht. Die Blicke des Schafhirten verfolgen die Herden auf der Weide. Im Mondlicht wandern die gelben und schwarzen Tiere schlafmüde und trübsinnig durch die Ebene und suchen das kalte Gras unter dem Strauchwerk längs der moosbedeckten Steinhaufen ab, und ihre Kuhglocken schaukeln und klingeln. Es ist eine fremde seltsame Musik, wie eine eintönige Kantilene, die bald näher kommt und sich dann wieder verliert. Während die Herde langsam auseinander läuft, belebt dies zitternde silberhelle Läuten das Schweigen der Ebene, macht gleichsam eindringlicher. Und der Hirt blickt auf. Wilde Träume ziehn durch seine Augen. Er ist von der rauhen, heimatlichen Bergwand herabgestiegen. Ihre kalten Weiden, die im herrlichen Frühjahr vom Duft der Tirtillosblumen und des Thymian durchzogen waren, bedeckt jetzt der Schnee, worin die Fußtapfen flüchtiger Hasen und des Muflonschafs mit den Schmachtaugen ihre Zeichen eingraben. Der Schafhirt hat die hochgelegenen Weideplätze beim ersten herbstlichen Lufthauch verlassen und ist zur Ebene niedergestiegen; in seinem Sacco – dem langen Mantel aus einheimischer Rauhwolle —, den er über den Kopf wirft und unter dem Kinn zusammenbindet, mit seiner Herde und seinem Hunde, seinem Pferd, seinem Kochgerät, seinen Löffeln aus Schafklauhorn und seinem Vorrat an Gerstenbrot für den ganzen Winter. Denn er führt ein Nomadenleben, wenn er auch eine zahlreiche Familie sein eigen nennt, die sich im hohen Bergnest droben niedergelassen hat.
Während er die Schafe auf der Weide hütet, erscheint vor seinen Augen das Bild des rohgezimmerten Hauses, wo seine Lieben ihren rauhem Winter verbringen. Dort, hinter den lichten Nebeldämpfen des Mondes erheben sich die versilberten Gipfel der Berge, und unter den schneeigen Mulden, wo das Muflon haust, schimmern die Lichter der kleinen Ortschaft. Das Haus des Schäfers ist aus Stein und Holz: in der geräumigen Küche raucht die alte steinerne Feuerstätte, und über dem Holzstoß brodelt es in einem großen schwarzen Kochtopf. Das Haus des Schäfers ist reich. Es giebt dort Holz. Speck, Kartoffeln, Bohnen. Die Frauen des Schafhirten haben das ganze Jahr hindurch in den Gemüsegärten gearbeitet, den Boden bewässert, die Kastanien und Nüsse in den Wäldern gesammelt und die veilchenfarbenen rotfleckigen Bohnen ausgehülst.
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