Jeder neue Schmerz ist etwas differenzierter von den anderen. Schmerz und Leid sind immer wieder neue Erfahrungen. Ob sich Mario jemals daran gewöhnt? Irgendwo hat er mal gelesen, dass der Widerstand gegen die Erfahrung erst das Leid erzeugt. Hmm, vielleicht sollte Mario noch mal in Ruhe drüber nachdenken.
Blende - Weihnachten im Knast
Nur gut, dass für Mario das Weihnachtsfest schon lange keine Bedeutung mehr hat. Gibt es doch unter den Knackis, offiziell VU´s (Verurteilte) einige, denen es ganz schön an die Nieren geht, nicht mit ihren Lieben sein zu können. Für Mario ist es ein Knasttag wie jeder andere. Nein, das heißt nicht ganz. Die VU´s haben nämlich zwei Weihnachtstüten bekommen. Und die Weihnachtspakete von draußen sind eine willkomme Gelegenheit seine Vorräte aufzustocken. Der monatliche Einkauf mit 67 DM fällt nicht gerade üppig aus. In seinem Spind und unterm Bett stapeln sich die Vorräte. Sie sollen aber auch reichen bis Ostern. Das tägliche frische Obst bekommt er durch einen Küchenarbeiter, im Tausch mit einem Stückchen Haschisch. Müsli hat Mario momentan auch reichlich. Er ist also ganz gut versorgt.
Je weniger du willst,
Desto mehr bekommst du.
Oder
Tue nicht was du willst,
Dann kannst du tun was dir gefällt.
Wir sind nicht nur Gefangene innerhalb der Gefängnismauern, wir sind auch Gefangene unserer selbst. Je mehr Ansprüche wir haben, desto mehr können wir enttäuscht werden. Dazu kommt: Wir beschränken uns allzu oft auf die Ansprüche in materiellen Angelegenheiten.
Was wäre anders, wenn Mario jetzt draußen wäre? Er würde sich so gut er kann um die familiären Weihnachtsfeierlichkeiten drücken, wäre vielleicht irgendwo in die Sonne geflogen oder würde angetörnt die Gegend unsicher machen. Ganz angenehme Vorstellungen, doch nicht weltbewegend Neues.
Blende – Das Leben im Knast verhilft Mario zu neuen Erkenntnissen.
Er kann sich zum Beispiel vor Augen führen wie es bei den meisten Menschen um das Weihnachtsfest bestellt ist. Es ist eben nicht wirklich Friede, Freude, Eierkuchen dort draußen. Da herrschen eher Hektik, Konsum, Stress und überfressene Bäuche. Über den Krieg reden wir jetzt mal gar nicht. Das sind die perversen Realitäten des Jubelfestes.
Es muss sein wie es ist!
Oder
Alles kommt wie es kommen soll.
Marios Aufgabe sollte sein, sich von den Irrungen und Wirrungen und den von dieser Energie imprägnierten Menschen, hier drin, wie da draußen, nicht ins Boxhorn jagen zu lassen. Er will seinen Weg der Erkenntnis gehen, so gut er es eben in den jeweiligen Umständen hinbekommt.
Und seine Augen wandern wieder zum Zellenfenster hin. Durch die daumendicken Gitterstäbe sieht Mario die verschneiten Dächer der braven Bürgerhäuser in der kleinen Stadt. Die kalte Wintersonne färbt den Schnee leicht rosa. Der Rauch der Schornsteine steigt senkrecht in den dunstigen Winterhimmel. Fasching ist´s und kalt. Mario lebt in einer kalten Welt. Die Kälte ist nicht nur da draußen. Doch immerhin, seine innere Welt wird durch sporadische Schübe von Enttäuschung, Angst, Schizophrenie, Hilflosigkeit, aber auch von Vertrauen, Einsicht in die Sinnhaftigkeit und der scheinbaren Notwendigkeit des Leids durchzogen. Also lebt er noch!
Und wieder wandern seine Augen zum Zellenfenster hin, wirft einen Blick auf die Eiszeitwelt. Die kalte Sonne ist weitergewandert. Besser die Erde hat sich weitergedreht. Die Schatten werden kürzer. Mario lebt noch!
Spiritualität und Materialismus
Liebe und Hass
Freiheit und Gefangenschaft
Gegensätze, die sich aneinander reiben
Bis die Mitte,
Die Essenz aus all dem gefunden ist.
Der Faktor Zeit spielt keine Rolle.
Er entsteht nur im beschränkten Bewusstsein
Des gefangenen Menschen.
Sind wir nicht alle gefangen?!
Gefangen in Mauern, errichtet von
Unserer Sehweise,
Moral
Unseren Abhängigkeiten
Unserer geistigen Beschränktheit.
Wir hängen an den Gittern des Zellenfensters
Schaben mit einer Nagelfeile an den Eisen
Schreien nach Freiheit
Und merken nicht,
Dass wir uns nur um hundertachtzig Grad
Drehen müssten und der Weg wäre frei,
Die Zellentür ist nämlich nur angelehnt
Wir alle tragen einen dicken Sack von frühkindlichem Schmerz mit uns herum. Die meisten von uns sind durch eine nicht kindgemäße Säuglingserziehung gegangen, und unsere Eltern konnten uns aus ihrer eigenen neurotischen Entwicklung heraus nicht die Akzeptanz geben, die wir benötigten. Wir wurden nicht dafür geliebt was wir waren, sondern dafür, was wir sein sollten.
Diese Erfahrung ist wohl für das Kind der größte Schmerz: dass die Eltern von ihm erwarten, jemand zu werden, der man nicht ist. Damit die unbefriedigten Bedürfnisse der Eltern gesättigt werden können, soll das eine Kind artig und lieb, das andere mutig und draufgängerisch und wieder ein anderes Kind stolz und angstlos sein.
Wenn nun das Kind bemerkt, dass es nur Liebe bekommt, wenn es so ist, wie seine Eltern es sich wünschen, gibt es auf, es selbst zu sein, und spielt vor, derjenige zu sein, den seine Eltern haben wollen.
Wir sind auf dem Weg nach Nirgendwo
Irgendwo in Irgendwo
Komm steige ein.
Hektik, Ärger überall
Selbst die Natur macht da keine Ausnahme.
Die Elemente Luft, Feuer, Wasser und Erde sind in Aufruhr!
Vulkane spucken Glut aus Mutter Erdes Leib
Kinder verhungern täglich
Schwarz und Weiß bekämpfen einander
Bomben verbreiten selige Ruhe.
In den Menschen brodelt ein alchemistisches Gebräu.
Es braucht noch ein spezielles Kraut
Und der kritische Punkt ist überschritten.
Dann gibt es zwei mögliche Reaktionsformen
Die eine sieht nach einem großen Atompilz aus.
Die andere Reaktionsformen -,
es bilden sich gewisse
Kristalle aus der schlimmen Suppe
Kristalle, aus denen sich der
Stein der Weisen zusammensetzt.
Das Bewusst-Sein für die menschliche Würde.
Das sich bewusst-sein über das eigentliche Ziel des Seins.
Alles strebt zum Licht!
Das ist die Natur!
Viele Entwicklungsstufen weiter ist der alchemistische
Prozess wieder am Anfang angelangt
Am Anfang war das Licht
Dann kam die Idee
Und die Idee ist durch das Wort Fleisch geworden
Doch auch die Polarität war geboren
Damit war die Sache aus der Einheit herausgefallen.
Die Polarität brachte die Verwirrung, den Zweifel,
Frau und Mann, Freude und Leid, Liebe und Hass,
Krieg und Frieden, Geburt und Tod,
Nicht-Wissen und Erkenntnis
Aber das Gesetz der Natur
Das Gesetz der Evolution
Das Gesetz von Yin und Yang
Verhilft dem Geist auf dem harten Weg
Über die Materie
Des Tanzes ums Goldene Kalb
Zum Bewusst-sein
Sich selbst und der Ordnung bewusst sein
Vertrauen und Wissen
Wie im Kleinen so im Großen
Und der Erkenntnis
Alles strebt zum Licht
Zur Vergeistigung
Wir sind auf dem Weg nach Nirgendwo
Irgendwo im Irgendwo
Komm steige ein!
Wer mit dem Leben spielt
Kommt nie zurecht
Wer sich nicht selbst befiehlt
Bleibt immer ein Knecht
Nichts taugt Ungeduld
Noch weniger Reue
Jene vermehrt die Schuld
Diese schafft Neue
Wieder eine Vollmondnacht
Mario wird in diesen Zeiten von einer starken inneren Unruhe gepackt. Er fühlt sich alleine gelassen. Maria ist wieder mit Peter auf La Gomera. Das Mädchen sollte er wirklich abhaken. Eifersucht und Neid sind Sachen, die er jetzt gar nicht gebrauchen kann. Mario freut sich stattdessen darüber, dass es ihm körperlich langsam besser geht. Die letzten Tage hat er ein fortwährendes Hungergefühl. Und er wird immer schweigsamer.
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