Der Theaterabend warf in mir mehr Fragen auf, als dass er Antworten gegeben hätte. Gerade deshalb ist mir Faust II wohl wichtig geblieben. Bis heute habe ich immer wieder Passagen aus Faust II gelesen, allerdings nie mehr das ganze Stück. Die Aufführung im Schiller-Theater vor mehr als 50 Jahren hat einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Wo immer ich Verweise auf Faust II finde, interessieren sie mich. Ich will wissen, ob das Stück, wenn es erwähnt wird, richtig zitiert oder interpretiert wird, und lese nach, was Goethe wirklich geschrieben hat. Einmal brachte mich das 1985 erschienene Buch «Geld und Magie» von Hans Christoph Binswanger darauf, dass man Faust II als alchemistisches Drama lesen kann. Alchemie und Astrologie spielten schon im Volksbuch vom Doktor Faust von 1587 und auch in nachfolgenden Bearbeitungen des Faust-Stoffes eine wichtige Rolle. Für Goethe sind diese Pseudowissenschaften der Kern des Kapitalismus, sagt Binswanger. Denn was den Alchemisten nicht gelang, nämlich mit Hilfe des Steins der Weisen aus minderwertigen Stoffen Gold zu erschaffen, das gelingt den Bankiers spielend, indem sie statt Edelmetall papierene Wechsel als Zahlungsmittel einsetzen. Ihr Kreditsystem ist gleichsam die Verwandlung von Papier in Gold, was deshalb funktioniert, weil das Publikum glaubt, hinter den Papieren stünden reale Werte, und dieser Glaube wird durch eine Theorie gestützt, die nicht besser fundiert ist als irgendeine Sterndeuterei.
Tatsächlich hat Kapitalismus viel mit Magie und dem Glauben an ein Wertschöpfungswunder zu tun. Ich erinnerte mich, dass in der Inszenierung am Berliner Schillertheater auf diesen Vorgang viel Gewicht gelegt wurde. Das Papiergeld wirbelte in rauen Mengen über die Bühne, Kaiser und Hofstaat verfielen in Ekstase. Die Gier nach mehr und noch mehr war geweckt. Ist das vom Text her gerechtfertigt? Ich lese noch einmal die Szene, in der Faust die kaiserlichen Finanzen sanieren soll. Mephistopheles muss helfen, damit der Plan gelingt. Was tut er? Er begibt sich auf die kaiserliche Pfalz, schaltet dort den Hofnarren aus, drängt sich in die Nähe des Kaisers, und bietet sich als neuer Hofnarr an. Es ist Karnevalszeit, der Kaiser versucht, gute Laune zu verbreiten. Doch der Heermeister erinnert an die grossen Schwierigkeiten, die den kaiserlichen Hof plagen: Unruhe ist im Land, Gewalt und Not. Kriegerische Horden plündern die Leute aus. Der Kaiser sollte Ordnung schaffen, aber er hat kein Geld, um seine bewaffneten Truppen zu bezahlen. «Der Mietsoldat wird ungeduldig, mit Ungestüm verlangt er seinen Lohn, und wären wir ihm nichts mehr schuldig, er liefe ganz und gar davon.» Auch der Schatzmeister klagt: Man könne auf keine Verbündeten mehr zählen, weil man selbst zu schwach sei. Man habe Rechte auf Einkünfte verpfändet und könne die Pfänder nicht mehr auslösen. «Wir haben so viel Rechte hingegeben, dass uns auf nichts ein Recht mehr übrigbleibt». Der Marschalk ergänzt: «Welch Unheil muss auch ich erfahren! Wir wollen alle Tage sparen und brauchen alle Tage mehr …» Wer mehr ausgibt als er einnimmt, wird immer ärmer und schwächer. Der neue Hofnarr, Mephistopheles, sagt dem Kaiser, wie er die Finanzmisere mit Leichtigkeit überwinden könne: Im Boden des Reiches seien unzählige Schätze begraben, einerseits Rohstoffe, andererseits versteckte Wertsachen. Der Boden gehöre dem Kaiser, und die darin eingelagerten immensen Werte könne er als Garantie anbieten. Es gelte jetzt einfach Wechsel auszustellen, unterzeichnet vom Kaiser, die durch diese Bodenschätze abgesichert seien. Der Hofstaat ist skeptisch. Mephisto meint, man solle doch den Astrologen fragen, und bläst diesem ein, was er sagen soll: «Die Sonne selbst, sie ist ein lautres Gold, Merkur der Bote, dient um Gunst und Sold…» Er zählt die weiteren Planeten auf, die alle günstig stehen und schliesst: «Ja! Wenn zu Sol sich Luna fein gesellt, zum Silber Gold, dann ist es heitre Welt; das übrige ist alles zu erlangen: Paläste, Gärten, Brüstlein, rote Wangen, das alles schafft der hochgelahrte Mann, der das vermag, was unser keiner kann.» Der hochgelahrte Mann ist Faust, der die Wechsel in Umlauf bringt. Er lässt den Kanzler verkünden: «Zu wissen sei es jedem, der’s begehrt: Der Zettel hier ist tausend Kronen wert. Ihm liegt gesichert, als gewisses Pfand, Unzahl vergrabnen Guts im Kaiserland.» Die Zettel werden akzeptiert. Der Kaiser selbst staunt: «Und meinen Leuten gilt’s für gutes Gold? Dem Heer, dem Hofe genügt’s zu vollem Sold?» Ja, es genügt. Das Papier ist bequem, die Unterschrift des Kaisers und die Verheissungen des Astrologen schaffen Zuversicht und Vertrauen. Massenhaft werden die Papiere gedruckt, alle Schulden werden beglichen.
Es war nicht einfach Goethes Phantasie, welche diese Szene entstehen liess; er dachte an reale Finanzmanipulationen, wie sie vor und während seiner Lebenszeit immer wieder vorkamen. Als Geheimer Rat und zeitweiliger Staatsminister des Grossherzogs von Weimar verstand er etwas von Staatswirtschaft und Staatsfinanzen. Sein Anliegen war es, durch Beschränkung der Ausgaben und Förderung der Wirtschaft den Staatshaushalt zu sanieren. Er wählte also einen anderen Weg als der berühmte schottische Finanzjongleur John Law (1671-1729), der zu Goethes Zeiten noch als warnendes Beispiel galt. Law hatte einen Plan entwickelt, wie der durch kostspielige Kriege hochverschuldete Staat Ludwigs XIV. ohne jegliche Sparmassnahmen zu sanieren sei. Statt Gold gab er neu geschaffenes Papiergeld in Zahlung, was anfänglich funktionierte, aber schliesslich in einer finanziellen Katastrophe endete. Goethe kannte zweifellos die Aktivitäten Laws, und in Faust II stellt er den Vorgang als Werk des teuflischen Mephistopheles dar.
Im Programmheft des Schiller Theaters, das ich aufbewahrt habe, lese ich Dorothe Lohmeyers feinsinnige Interpretation von Goethes Faust. Es gehe um die Erscheinung, «die über sich hinausweist und symbolisch wird für menschliche Welt überhaupt», schrieb sie. Das war wohl richtig, aber mir scheint viel wichtiger, dass es Goethe auch um die konkreten Verhältnisse in Deutschland, um reale Geschichte, Wirtschaft und Politik ging, nicht nur um Ideen und Symbole. Er dramatisierte im Faust II aktuelle Ereignisse seiner Zeit, wenn auch im historischen Gewand. Etwas von diesen Hintergründen der Faustdichtung machte mir die Inszenierung am Schiller-Theater bewusst, und ich dachte dabei, wenn das marxistisch sei, so liesse ich mir Marxismus gerne gefallen.
1 Littérature engagée
Kurz vor Weihnachten fuhr ich in die Schweiz zu meinen Eltern. Einen Tag nach meiner Ankunft in Biel rief Laure an, meine Gotte und die Schwester meiner Mutter. Sie wollte wissen, wie es mir in Berlin ergangen sei. Ich berichtete von den Studentenprotesten, vom Theater und von meiner kleinen Nichte, die sich prächtig entwickle. Laure nahm an allem Anteil, ich merkte aber, dass sie darauf brannte, mir ihrerseits etwas zu erzählen. Sie sei bei der Verleihung des Literaturpreises der Stadt Zürich an Emil Staiger dabei gewesen, sagte sie mit einem leisen Vibrieren in der Stimme. Eigentlich sei sie nicht wegen Staiger hingegangen, sondern wegen Max Frisch, der den Preis im Vorjahr bekommen habe. «Weißt du, Frisch hat bei Staiger studiert. Ich meinte, er werde die Laudatio halten. Es kam aber Werner Weber von der NZZ und sprach seine salbungsvollen Worte. Dann betrat Staiger die Bühne und hielt eine Dankesrede, bei der mir immer unwohler wurde. Da sassen alle diese Pelzmantelweiber vom Zürichberg und applaudierten dem grossen Staiger. Und der sprach – stell dir das einmal vor – unangefochten von Entartung in der modernen Literatur! Ich war wie gelähmt, konnte nicht reagieren. Jetzt habe ich die Rede noch einmal gelesen. Sie steht heute in der NZZ. Du musst sie unbedingt lesen, es ist ein Lehrstück! Da weißt du nachher, wogegen du dich zur Wehr setzen musst.» Sie war jetzt wieder ruhig, fand sich in der Rolle einer mütterlichen Freundin, die mich, den jungen Studenten, ein wenig fördern und ermuntern wollte. «Lies die Rede, und morgen musst du dann lesen, was Hugo Leber im ‘Tages-Anzeiger’ schreibt. Er wird Staiger eine gepfefferte, hoch gescheite Antwort geben. Er hat mir erzählt, was er schreiben will. Du wirst sehen, Staiger ist erledigt!»
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