Irghil das Reich jedoch noch nicht direkt bedrohten, konnte dieser ihr keine
Verstärkungen schicken. In einem solchen Fall entschied der Kronrat, und
dieser hatte als Bevollmächtigten ta Andarat gesandt.
Geduldig berichtete Livianya dem Mann von ihren Befürchtungen. Am
Gesichtsausdruck des Adligen war sein wachsender Widerwille abzulesen.
Schließlich unterbrach er ihre Ausführungen. »Schön, schön, sie mögen
gefährlich sein, diese Schalentiere. Aber sie bedrohen nicht das Königreich,
nicht wahr? Bleibt dem vergangenen Reich Jalanne fern, dann sind auch Eure
Reiter sicher.«
»Und die Lemarier?«
Er betupfte abermals sein Gesicht. »Sie sind uns willkommen. Wenn sie
denn kommen wollen.«
»Es wurde ihnen bereits angeboten, Hochgeborener.«
»Nun, so scheinen mir diese Bestien doch ausschließlich das Problem der
Lemarier zu sein. Es besteht keine Veranlassung, dass sich die tapferen
Männer der Garde ihretwegen in Gefahr begeben. Oder deren schöner
Kommandant«, fügte er hinzu.
»Eines Tages könnten diese Bestien unsere Grenze direkt bedrohen«, gab
Livianya zu bedenken. »Jetzt sind sie vielleicht noch zu schwach dazu.«
Er wedelte mit dem Tuch. »Wenn dies wirklich einmal der Fall sein sollte,
so wird Euch der Kronrat die erforderlichen Truppen bewilligen. Aber dieser
Tag scheint mir doch noch sehr weit entfernt zu sein.« Er seufzte. »Bedenkt,
Hochgeborene, der Unterhalt der Garde kostet eine Menge goldener
Schüsselchen. Ich bin dem Kronrat und Ihrer Majestät gegenüber
verantwortlich, sie nicht zu verschwenden.«
Einer der Gardisten schnaubte verächtlich, und als ta Andarat den Mann
ansah, erwiderte dieser trotzig seinen Blick. Ta Andarat räusperte sich und
sah erneut in das Land von Jalanne hinunter. »Wie ich es bereits erwähnte,
wenn sich eine wirkliche Bedrohung ergibt, so werden König und Kronrat
Euch sofort zur Seite stehen.« Abermals bemühte er sein feines Tuch. »Doch
nun sollten wir uns zurückziehen. Es ist ein wenig zugig hier, und ich
verspüre ein Kratzen in der Kehle.«
Er ging zum Aufzug und blickte dann noch einmal zu dem
Vergrößerungsrohr zurück. »Ein beachtenswertes Gerät. Vielleicht sollte ich
es mit mir nehmen. Um es, äh, herumzuzeigen. Es könnte auch den anderen
Festungen nützlich sein.«
Livianya sah ihn abweisend an. »Nun, das müsst Ihr den Hochgeborenen
Lord ta Enderos fragen. Er hat es geschenkt bekommen.«
»Ja, sicher. Nun, es ist auch nicht von besonderem Belang.«
Die Plattform glitt wieder nach unten. An der Basis des Turms setzte sie
inmitten des Podestes auf, das einen bequemen Zutritt ermöglichte.
»Wir haben ein bescheidenes Mahl und ein Quartier für Euch vorbereitet,
Hochgeborener«, sagte Livianya mit gezwungener Freundlichkeit. Das Mahl
war in der Tat bescheiden, ebenso wie das Quartier. Nicht besonders schlecht,
aber auch nicht das Beste, was Maratran zu bieten hatte. Er erhielt die gleiche
Behandlung wie ihre Männer. Sie sah keinen Grund, ta Andarat mehr
zuzubilligen, als er verdiente. Mochten andere ihm das Gesäß ausputzen, um
seine Gunst zu gewinnen, sie würde das nicht tun.
»Ich bedauere zutiefst, Hochgeborene, doch in Alneris erwarten mich
dringende Amtsgeschäfte.«
Wohl eher die Schenkel eines Weibes, dachte Livianya verächtlich und
war erleichtert, den ungeliebten Gast so schnell wieder los zu sein.
Zusammen mit einer Ehrenwache begleitete sie den Adligen zum Tor. Als
er und seine Eskorte ihren Blicken entschwanden, trat Hauptmann Bernot ta
Geos zu seiner Kommandantin. Als er ihren grimmigen Gesichtsausdruck sah,
nickte er lächelnd. »Ich ahnte, dass wir von ihm nichts zu erwarten haben.«
»Nein, nicht von einem wie dem. Aber ich musste es wenigstens
versuchen«, gestand sie ein. »Kommt mit, Bernot, wir haben einiges zu
besprechen.«
Einst hätte sich die Hochgeborene Livianya nicht träumen lassen, jemals
eine Rüstung zu tragen und gemeinsam mit der Garde zu kämpfen. Ihr
Gemahl ta Barat war stellvertretender Kommandeur eines Regiments gewesen
und hatte in der Festung von Dergoret gedient, die den Großen Wall im
Norden versperrte. Vor vielen Jahren hatten die Legionen der Orks versucht,
über den Pass von Dergoret in das Reich Alnoa vorzustoßen. Sie waren
äußerst geschickt vorgegangen und hatten die Garde aus der Festung gelockt.
Dann waren sie über sie hergefallen und hatten die Männer abgeschlachtet.
Nur eine Handvoll entkam und zog sich nach Dergoret zurück. Darunter
Livianyas schwer verwundeter Gemahl. Man hatte das Signalfeuer entzündet
und gehofft, die Truppen des Königs würden rechtzeitig kommen, um die
Besatzung der Festung zu retten. Ununterbrochen rannten die Orks an, und
die Moral der Gardisten sank. Livianyas Gemahl gelang es, trotz seiner
Wunden, den Kämpfern ein Vorbild zu sein. Doch es überforderte seine
Kräfte. In der Nacht vor dem letzten Ansturm der Legionen starb er in
Livianyas Armen. Wäre sein Tod bekannt geworden, hätte der Mut die letzten
Verteidiger verlassen. Als der Morgen dämmerte, trat Livianya in der
Rüstung ihres toten Gemahls in die Reihe der Männer. Sie hielten stand. Trotz
allen Elends und ihrer Verzweiflung. Sie hielten stand, bis die Truppen des
Königs kamen.
Als offensichtlich wurde, wer in der Rüstung ta Barats gekämpft und
Orkblut in Strömen vergossen hatte, gewährte der König ihr einen Wunsch.
So trat sie der Garde bei, gegen den Widerstand vieler Adliger und Gardisten,
die den Traditionen verhaftet waren. Sie diente als Führer eines Halbberitts,
stieg zum Hauptmann und Berittführer auf und gewann in Kämpfen den
Respekt ihrer Soldaten. Sie wurde zu einer Heldin, und das einfache Volk
liebte seine Helden. Als der alte Kommandant von Maratran starb und sie sich
um den Posten bewarb, genoss sie die Unterstützung des Volkes und der
Garde. So erhielt sie das Kommando über Maratran und handelte sich
zugleich die Gegnerschaft jener ein, die es ihr neideten oder ihr die Rüstung
nicht zuerkannten. Livianya war dies gleich. Sie vermisste die Hohe
Gesellschaft in Alneris nicht und empfand Verachtung für jene, die ihre
Soldaten leiden ließen, um den eigenen Wohlstand zu mehren.
Sie hatte sich nie wieder an einen Mann gebunden, obwohl es manche
Angebote gegeben hatte. Von einer gezackten Narbe am Schulterblatt
abgesehen, war ihr Körper von makelloser Schönheit, und trotz aller Härte
besaß sie jene Weiblichkeit, die die fürsorglichen Gefühle eines Mannes
weckte. Im Grunde war die Hochgeborene nicht abgeneigt, sich erneut zu
binden. Doch es hätte ein Kämpfer sein müssen, und sie kannte die Sorge, die
man empfand, wenn ein Geliebter dem Feind entgegenritt. Sie scheute davor
zurück, diese Sorge erneut zu erleben oder gar der Grund dafür zu sein. Aber
niemand konnte die Zukunft weissagen.
Ihre Empfindungen gegenüber Hauptmann ta Geos waren eher
freundschaftlicher Art. Jedenfalls sagte sie sich dies immer wieder, denn es
hatte einige Nächte gegeben, in denen sie diesem Grundsatz untreu geworden
war. Nächte, in denen die Einsamkeit zu groß wurde, um nicht die Nähe eines
anderen Menschen zu suchen. Ta Geos mochte im Gefecht nicht sonderlich
fantasievoll sein, dennoch hatte er seine Qualitäten. Er war ein Meister im
Kampf, ein ausgezeichneter Berittführer und auf der Bettstatt ein exquisiter
Liebhaber. Vor allem aber, und dies schätzte Livianya besonders, nutzte er
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