„… durch und durch verlanzt und durchjaucht…“
Krisengespräch bei Limbachs Verleger Peter-Heinrich Wagner. Limbach hat ihn direkt nach seinem späten Frühstück bei Vivien aufgesucht. Wagner, Mitte sechzig, ist eigentlich Lehrer von Beruf. Wegen des Radikalenerlasses von 1972 hat er ihn aber nie ausüben dürfen, da er damals Mitglied einer kommunistischen Partei war. Nach den üblichen Umwegen – Journalist, Lektor – hat er sich in den Achtzigern mit einem kleinen, alternativen Verlag im Hamburger Schanzenviertel selbständig gemacht. Jahrelang, um nicht zu sagen jahrzehntelang, hielt sich der Kleinstverlag mehr schlecht als recht mühsam gerade so über Wasser, ständig von einer Pleite nach der anderen bedroht. Wer las schon Maos Memoiren, Gaddafis Gedichte und Pol Pots Poesie? Und auch die Nachfrage nach der so und so vielten Lebensbeichte des des x-ten Ex-RAFlers blieb überschaubar.
Dann, vor zwei Jahren, die grandiose Idee mit der eigenen Krimi-Reihe, durchgesetzt gegen den Widerstand der langjährigen Weggefährten im Verlag („bürgerlich-dekadente Scheiße“), in der auch Limbachs Erstling versehentlich veröffentlicht wurde. Mit durchschlagendem Erfolg. Gigantische Verkaufszahlen. Preise und Anerkennung noch und nöcher. Aber vor allem: Durch den unerwarteten Bestseller wurde der kleine, linke Verlag in ungeahnte Höhen katapultiert und schwimmt seitdem in Geld. Und der Verleger, der Limbach vorher weitgehend ignoriert hatte, hat ihn plötzlich richtig lieb.
Mit Wagner und seinen Kumpels übern Kiez und die Nächte durch Limbach ist dabei. Wilde Wochenenden auf Sylt und danach noch Schampus an der Alster: Limbach auch. St. Tropez und St. Moritz, dazwischen Seychellen: Natürlich mit Limbach.
Inzwischen sind der Autor und der Verleger enge Freunde.
„Okay, irgendwo hast du ja recht, im Grunde“, meint Wagner, „aber das ist doch alles nichts Neues. Der Untergang des Abendlandes droht doch schon seit Jahren. Warum regst du dich gerade jetzt so darüber auf?“
Limbach erzählt seinem Verleger von dem unglaublichen Skandal auf der Bestsellerliste und von den unerträglichen Zumutungen, denen er dadurch ausgesetzt ist. Dabei gefällt er sich zusehends in der Rolle des sensiblen, leidenden Autors, der an der Schlechtigkeit der Welt verzweifelt und verwendet zum zweiten Mal seine neueste Lieblingsformulierung: „Meine Autorenseele ist zutiefst verletzt.“
Peter-Heinrich Wagner, von Freunden „Pehe“ genannt, sichtlich bemüht, sein bei weitem wertvollstes Pferd im Stall (engsten Vertrauten gegenüber spricht er in Bezug auf Limbach auch schon mal von „Dukaten-Esel“) zu besänftigen, tut alles, Limbachs Stimmung zu verbessern. Nicht auszudenken, was passieren würde, wenn er ihn verlieren würde. Nicht weniger als der Rückfall in alte Hungerleider-Zeiten nämlich.
Der Verleger betätigt die Tastatur des Rechners auf seinem Schreibtisch und wirft einen Blick auf den Bildschirm.
„Stefan, ich darf dir mal eben die neuesten Verkaufszahlen nennen: Es sind jetzt knapp über eine Million Exemplare weg. Allein in Deutschland. Der Lizenzverkauf ins Ausland ist gerade erst angelaufen. Dabei geht es um enorme Summen. Es kann also gar keine Rede davon sein, dass niemand mehr etwas von dir wissen will. Ganz im Gegenteil: Das geht jetzt erst richtig los, wirst sehen. Die Nachfrage ist riesig.“
„Nicht so riesig wie die Nachfrage nach dem Machwerk von dieser, dieser…“
„Du darfst aber nicht vergessen, dass dein Buch schon bald zwei Jahre auf dem Markt ist. Und jetzt wird halt gerade mal wieder eine andere Sau durchs Dorf getrieben.“
„Sau trifft es übrigens sehr gut…“
„That‘s business, so funktioniert das System, das ist Kapitalismus. Gibt den Leuten was sie haben wollen, und du hast Erfolg. Im Prinzip ganz einfach.“
„Das sagt ein Drogendealer auch.“
„Aber so isses.“
„Da könnte man ja glatt Kommunist werden.“
Wagner stutzt. In der Tat hatten linke Parteien im Zuge der Finanzkrise erheblichen Zulauf bekommen. Aber Derartiges aus dem Mund eines Bestsellerautors und frischgebackenen Millionärs zu hören war seltsam.
„Das ist jetzt nicht wirklich dein Ernst. Du bist verärgert. Vielleicht auch verbittert. Wir leben nun mal in diesem System und müssen uns mit ihm arrangieren.“
„Schweine-System!“
Wagner zuckt bei diesem Ausdruck zusammen. Er hat ihn lange nicht mehr gehört. Aber er kennt ihn nur zu gut. Er hatte ihn oft genug selber gebraucht.
„Von dem wir aber im Moment sehr gut leben…“
„Ja, wir. Und gleichzeitig durchwühlen Tausende von Menschen Abfallkörbe, weil ihre Rente zu klein ist. Alle Nase lang verhungern Kinder, gerade hier in Hamburg, einer der reichsten Städte des Landes.“
Wagner ist verblüfft. Solche Töne hätte er von seinem Star-Autor, den er bisher für einen oberflächlichen Hallodri, der nichts ernst nahm, gehalten hat, nicht erwartet. Wenngleich ihm der Anlass für einen derartigen Ausfall reichlich banal erscheint. Er ist alarmiert. Er tritt die Flucht nach vorne an.
„Stefan, ganz im Vertrauen, das mit dem Kapitalismus hat sich sowieso bald erledigt. Das System ist am Ende. Seit das Wort ‚Bankräuber‘ eine völlig neue Bedeutung hat…“
„Nee, lass‘ ma, ich setz‘ mich ab. Kasachstan soll übrigens auch sehr schön sein. Bloß fünf Menschen auf einem Quadratkilometer. Wusstest du das?“
„Nee, wusst‘ ich nich‘…“
„Total dünn besiedelt. Nahezu menschenleer, kann man sagen. Während wir uns hier gegenseitig auf den Füßen stehen.“
„Komm‘, so schlimm ist es auch wieder nicht…“
„Unerträglich!“
„Jetzt übertreibst du aber!“
„Obwohl Norwegen natürlich landschaftlich mehr hermacht. Berge, Fjorde…“
„Ja, herrlich.“
„Wunderbare Menschen.“
„Wunderbar.“
„Völlig entspannt.“
„Total.“
„Altes Wikinger-Volk. Waren früher ja ziemliche Rabauken. Ließen sich nix gefallen. Und machen auch heute noch, was sie wollen. Sind zum Beispiel nicht in der EU, die Wikinger, äh, die Norweger…“
„Ja, ich weiß…“
Wagner beginnt sich allmählich zu fragen, ob er sich um Limbach ernsthaft Sorgen machen muss. Wie jemand aus einem vergleichsweise nichtigen Anlass derart aus der Fassung geraten kann, kann er nicht recht nachvollziehen.
Offenbar hatte sich bei Limbach schon über längere Zeit hinweg einiges angestaut. Ist er etwa kurz davor, durchzudrehen?
Merkwürdige Leute, diese Autoren!
„Okay, ich versteh‘ dich ja. War vielleicht wirklich n‘ büschn viel für dich, in letzter Zeit. Du solltest mal eine Weile richtig ausspannen. Ich unterstütze dich jedenfalls bei allem, was du vorhast. Im Grunde ist es ja egal, wo du lebst. Schreiben kannst du schließlich überall, meinetwegen auch in Norwegen, in Island oder in Timbuktu…“
„Kasachstan!“
„Wo auch immer. Ich bin übrigens kurz davor, mir ein Haus auf Sylt zuzulegen. 1-A-Lage. Riesengrundstück. Herrlich ruhig dort. Soll mal mein Altersruhesitz werden. Steht dir natürlich zu Verfügung, wann immer und so lange du möchtest. Dort könntest du in aller Ruhe an deinem nächsten Roman arbeiten, wenn du dich erholt hast.“
„Ach, hatte ich das noch gar nicht erwähnt?“
„Was denn, Stefan?“
„Ich werde keine Zeile mehr schreiben.“
„Was!?“
„Nicht für dieses Deppen-Volk.“
* * *
Abends dann bei Nui in der Wohnung. Etwas Trost. Viel Freude.
4. Gewalt
Ernesto Biedermann, Leitender Oberstaatsanwalt Dr. Theodor Meier-Streng, Peter-Heinrich Wagner, Ute, Jule und Tanja Wagner, Stefan Limbach, Vivien Hansen
Der Oberstaatsanwalt hat fünf Jahre lang die Abteilung für jugendliche Intensivtäter geleitet. Seine knallharten Plädoyers brachten ihm bald den Ruf eines Hardliners ein. Die Plädoyers hatten selten den gewünschten Erfolg. Eigentlich fast nie. Seiner Forderung nach zwölf Jahren Freiheitsstrafe mit anschließender Abschiebung für schwere, wiederholte Körperverletzung mit Todesfolge folgte schon mal stattdessen eine Bewährungsstrafe, verbunden mit einem halbjährigen Erlebnisurlaub auf Neuseeland. Die Urteile Hamburger Gerichte waren in dieser Hinsicht berüchtigt und bundesweit einmalig. Hamburger Kuschelrichterinnen.
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