Deutschland wird er wohl nicht wirklich verlassen, jedenfalls nicht ganz. Dafür ist einfach zu heimatverbunden. Aber ein zweiter Wohnsitz wäre schon nicht schlecht, als Fluchtpunkt und Rückzugsgebiet, wenn ihm wieder einmal alles zu viel würde. Island und Norwegen stehen dabei auf seiner Favoriten-Liste ganz oben.
Limbach sitzt in einem Bistro im Hamburger Hof am Jungfernstieg. Vor sich eine heiße Schokolade und mehrere Tageszeitungen. Zwei kichernde Teenies erkennen ihn, lassen ihn aber in Ruhe. Hamburg eben. Schade eigentlich.
Sehen ganz süß aus, die beiden, denkt Limbach. Hätten mich ruhig um ein Autogramm bitten können. Für den Abend hat ihn sein Verleger zu sich nach Hause zum Essen eingeladen. Das hat er bisher noch nie getan. Bevor sein Buch zum Renner wurde, hat er seinen Verleger nicht einmal persönlich gekannt. Zwar ist der Verlag ein kleiner Verlag, aber seinen Autoren bringt der Verleger normalerweise kaum Interesse entgegen. Zumindest ist es Limbach lange Zeit so vorgekommen und es hat ihn sehr irritiert.
Doch dann hat sein Buch die Bestsellerlisten gestürmt. Und plötzlich war sein Verleger eng mit ihm befreundet. So wie jeder Verleger mit dem jeweils erfolgreichsten Autor seines Verlages eng befreundet ist.
Jetzt geht dem alten Fettsack der Arsch auf Grundeis, denkt Limbach schadenfroh. Rutscht auf den Knien vor mir rum und küsst mir die Füße. Denkt wohl, ohne mich geht sein Anarchisten-Verlag, auf dessen Homepage ehemalige RAF-Terroristen, die ihre Memoiren oder sonstige Pamphlete veröffentlicht haben, immer noch als „Protagonisten des bewaffneten Kampfs“ tituliert werden, und nicht als Verbrecher, den Bach runter. Eine Befürchtung, die wahrscheinlich völlig berechtigt ist. Keiner der anderen Autoren des Verlags ist auch nur annähernd so erfolgreich wie Limbach. Er verkauft alleine mehr als zehnmal so viel wie alle anderen zusammen. Ist ohnehin sowieso ein Wunder, dass diese linke Klitsche so lange überlebt hat.
Bestimmt macht der Verleger ihm heute Abend wieder ein Angebot. Nachdem er zuletzt mit einer Million Euro Garantiehonorar und zwanzig Prozent vom Ladenpreis für jedes verkaufte Exemplar seines nächsten Buches gelockt hat, würde er ihm nun wahrscheinlich die Teilhaberschaft anbieten. Oder eine seiner Töchter zur Frau geben. Wahrscheinlich aber beides.
Nicht schlecht für jemanden, der vor einem Jahr noch auf Hartz IV angewiesen war, denkt Limbach. Eigentlich könnte der Verleger ruhig einmal in der Woche meinen Lambo waschen, überlegt er, still vor sich hin grinsend. Oder seine Töchter könnten meine Wohnung putzen. Nackt natürlich. Limbachs Gesichtsausdruck ist jetzt hämisch. Erfolg ist einfach geil. Sexy.
„Hi Stefan, so blendend gelaunt heute? Alles wieder gut?“
Limbach schreckt hoch. Er hat sie gar nicht herankommen sehen. Hätte er, hätte er sie außerdem gar nicht erkannt. Zumindest nicht sofort. Sie trägt eine große Sonnenbrille und eine Baseball-Kappe. Keck und flott.
„Hallo Vivien. So ein Zufall. Hasse frei heute?“
„Hm. Mach' grad' n' Stadtbummel. So schönes Wetter heute. Und du?“
„Ich? Och, ich mach' grad' 'ne Schreibpause. Musste mal raus. Immer am Schreibtisch, weisse... Setz' dich doch. Ich lad' dich ein.“
„Gerne. Danke.“
* * *
Durch Hamburg zieht sich eine Spur der Gewalt. Seit kurzem werden bekannte Persönlichkeiten in ihrem privaten Umfeld angegriffen. Das Auto eines Politikers ging direkt vor dessen Wohnhaus in Flammen auf. Einem Chefredakteur wurden zu Hause die Fensterscheiben eingeworfen, ein paar Farbbeutel flogen hinterher. Einem Banker ist besonders übel mitgespielt worden: Er wurde am helllichten Tag bewusstlos und mit vollgekackter Hose mitten auf dem Rathausplatz gefunden. Jemand hatte seinen Drink mit k. o.-Tropfen angereichert und ihn dann in Hamburgs gute Stube befördert.
An die zehn Fälle dieser Art haben sich mittlerweile angehäuft – aufgeklärt ist kein einziger.
Das betrübt Oberstaatsanwalt Ernesto Biedermann außerordentlich. Da bei den Anschlägen politische Motive ganz offensichtlich sind, sind er und seine Abteilung zuständig. „Polizei tappt völlig im Dunkeln“ titeln die Zeitungen hämisch und fragen: „Wann gibt es den ersten Toten?“ Dabei hat es den schon längst gegeben: Vor dreizehn Jahren war der Vater eines Senators zu Tode gekommen, als er bei seinem Sohn zu Besuch war. Ihn traf ein Stein am Kopf, der durch das Fenster flog. Biedermann vermutet stark, dass es einen Zusammenhang mit den Anschlägen der jüngsten Zeit gab.
Nicht nur die Handschrift ist genau die gleiche. Es führt auch eine DNA-Spur direkt zu einem der Steine, mit denen kürzlich die Fensterscheiben des Chefredakteurs eingeworfen worden sind.
Und da prahlt dieser Limbach in diesem Revolverblatt mit seiner linksautonomen Vergangenheit. Outet sich, romantisch verklärt, als militanter Akteur der achtziger Jahre, als die besetzten Häuser in der Hafenstraße bundesweit für Schlagzeilen gesorgt hatten. Tönt, dass man bei der Wahl der Mittel damals eben nicht immer zimperlich sein konnte, wenn man etwas erreichen wollte. Vergleicht sich und seine Mitstreiter sogar mit den Verschwörern des 20. Juli („Die nahmen sogar Mord in Kauf“). Und lässt, so ganz nebenbei, durchblicken, dass er als ehemaliger Szene-Insider so einiges wisse, was die Strafverfolgungsbehörden auch heute noch brennend interessieren dürfte. Auch und gerade im Fall des getöteten Senatoren-Vaters.
Wissen, das nur jemand haben konnte, der wusste, wer der Täter war.
Oder der vielleicht sogar selbst der Täter war.
Aber der Leitende, der General und der Senator verweisen auf das Renommee des Autors, der kurz vor dem internationalen Durchbruch stehe.
Biedermann sitzt an seinem Schreibtisch und studiert Akten. Seine Lieblingsbeschäftigung. Seit seiner Scheidung vor fünf Jahren ist er praktisch mit seinem Beruf verheiratet. Böse Zungen behaupten allerdings, das sei er auch schon vorher gewesen, deshalb sei es zur Trennung von seiner Frau gekommen.
Biedermanns Telefon klingelt. Hauptkommissar Kostner.
„Herr Oberstaatsanwalt, es ist etwas passiert.“
* * *
Peter-Heinrich Wagner bewohnt ein schmuckes Einfamilienhaus im Hamburger Stadtteil Farmsen-Berne. Er und seine Frau Ute haben für ihren Star-Autor gekocht, um ihn bei Laune zu halten. Beziehungsweise, um seine Laune zu verbessern. Ebenfalls anwesend: die beiden Töchter, Jule, 20, und Tanja, 23.
Es gibt Lasagne und Rotwein.
Limbach ist war zum ersten Mal bei seinem Verleger zu Gast und wundert sich ein wenig über die nach seinem Geschmack recht gediegene Einrichtung. Das Zuhause eines Ex-Revoluzzers und alternativen Verlegers hat er sich irgendwie anders vorgestellt. Ikea und WG-Atmosphäre vielleicht, und im Bücherregal Marx und Mao oder so. Mindestens aber ein Che-Guevara-Konterfei an der Wand.
Stattdessen: Eiche rustikal und die alten Klassiker. An den Wänden moderne Kunst. Und in der CD-Sammlung auffällig viel Barock.
Limbach erläutert seine Zukunftspläne.
„Es wird wohl auf Bergen hinauslaufen.“
„Hä? Bergen?“
„Ja, Bergen in Norwegen. An der Westküste. Die regenreichste Großstadt Europas. Durchschnittlich regnet es dort an zweihundertfünfzig Tagen im Jahr. Toll, nicht? Ich liebe ja Regen.“
„Ich weiß nicht... Und was willst du da machen?“ Peter-Heinrich Wagner gefällt nicht, was er hört.
„Ein Restaurant eröffnen. Zusammen mit Nui. Thailändische Küche in Norwegen. Der Hammer, sag' ich euch, der Hammer!“
„Ich weiß nicht, Thai-Lokal in Norwegen, so was gibt’s doch sicher schon.“ Ute Wagner.
„Na und? Wenn man so denkt... Alles gibt’s schon.“
Limbach wird irgendwie vom Teufel geritten. Er bindet seinen Gastgebern einen Bären nach dem anderen auf und empfindet eine diebische Freude dabei. Unter anderem behauptet er, möglicherweise auch eine Tango-Schule eröffnen zu wollen.
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