„Siehst du dir die Fliege an?“, fragte ich.
„Sie hat Beißwerkzeuge wie eine Schnecke. Willst du auch mal sehen?“
„Später. Ich verstehe Potenzrechnung nicht.“
„Was gibt’s da nicht zu verstehen? Zeig mal her!“
In diesem Moment klingelte es an der Haustür.
„Mach du auf!“, bat Leo.
„Und wenn es Nico ist?“
„Dann gehen wir eben beide!“, sagte sie widerwillig. Gleich darauf war ich froh, nicht allein durch den Flur zu laufen, denn ein Mann wartete vor dem Haus. Kein großer zwar, aber das machte es nicht besser.
„Kennst du den?“, fragte Leo.
„Nein. Wann kommt Mama?“
„Jetzt noch nicht.“
„Frag ihn, was er will?“, bat ich.
„Wieso? Ich soll schon deine Hausaufgaben machen!“
„Quatsch, du sollst bloß mal gucken!“
Der Mann hatte uns durch die Haustür gesehen und klopfte nun auch noch.
„Jetzt geh schon!“, zischte Leo. Notgedrungen lief ich hin und sah mir den Fremden an. Durch das Muster der Glasscheibe verschwamm sein Gesicht. Blass sah es trotzdem aus. Dafür trug er einen blitzblauen Arbeitsanzug.
„Ich komme wegen der Heizungswartung“, rief er. „Sind eure Eltern da?“
Leo stellte sich wenigstens neben mich, auch wenn sie nichts sagte.
„Die kommen erst um fünf“, rief ich zurück. Das war ein Fehler. Der Mann fing an zu drängeln.
„Um fünf bin ich bei einem anderen Kunden“, klang er dumpf durch die Scheibe. „Es dauert nur zehn Minuten!“ Er trat näher ans Fenster und versuchte zu lächeln, doch seine Augen machten dabei nicht mit. Ich sah einen traurigen, alten Heizungsmonteur.
„Kommen Sie später nochmal!“, rief ich. „Soll ich Ihre Handynummer aufschreiben?“
Der Mann nickte zwar, ging aber weder weg, noch sagte er mir die Nummer. Mir lief der Schweiß längst den Rücken hinab, als er endlich weiter zog. Steifbeinig stieg er in sein hellblaues Auto und fuhr davon. Leo und ich schnauften durch. Zurück zur Potenzrechnung!
„Zehn hoch zwei, mal zehn hoch drei ist gleich zehn hoch fünf“, erklärte mir Leo. „Solange unten das Gleiche steht, addierst du die Potenzen einfach! Leichter geht’s nicht.“
Wenn sie das sagte! Eine Viertelstunde später war die Hausaufgabe erledigt und der alte Mann vergessen.
„Spielen wir noch ‘ne Runde Fußball?“, fragte ich Leo.
„Ich weiß nicht. Die Apfelwiese lohnt sich jetzt nicht mehr. Gehen wir bloß hinters Haus?“
Wir bauten aus Blumentöpfen eine Dribbling-Strecke und trainierten ein bisschen für uns. Später schauten Mattu und Klem noch rein – Löwenmähne und Schnatterschnabel. Jetzt überlegten wir zum zweiten Mal, wo wir hingehen sollten. Papa mochte es nicht, wenn viele Kinder hinterm Haus spielten. Er hatte Angst um seinen Rasen. Mama würde bald heimkommen, also sollten wir nicht zu weit weg gehen. Deshalb blieb nur das unbebaute Grundstück weiter hinten übrig. Durch die Büsche würde Mama uns zwar nicht sehen, aber auf jeden Fall hören. Das war okay.
Während Klem haarklein erzählte, wo ihm von gestern noch die Muskeln zwickten, schnappte ich mir eins der Fußballtore neben der Gartenhütte. Mattu schulterte das zweite und Leo lief mit dem Ball voraus. Bolzen machte selbst nach einem schweren Spiel noch Spaß.
Mama trudelte viel später ein als erwartet. Sie war mit Einkäufen bepackt und hatte keine Lust, alles allein wegzuräumen. Wir dagegen liefen mit hungrigen Bäuchen ins Haus.
„Warum hast du so fettigen Schinken gekauft?“, maulte Leo. „Wenn wir nicht gleich essen, falle ich um!“
Mama war zu müde zum Streiten. „Wenn ihr essen wollt, deckt den Tisch!“, sagte sie nur und lief mit Duschbad, Creme und Klopapier ins obere Bad. Gleich darauf hörten wir sie kreischen.
„Tina, Leo, ihr Ferkel! Wieso rennt ihr mit schmutzigen Schuhen durchs Haus?“
Verwundert, aber ohne schlechtes Gewissen, liefen wir ihr nach. Tatsächlich lagen auf der Treppe schwarze Krümel. Mama stemmte die Hände in die Hüften.
„Bis ich umgezogen bin, habt ihr das aufgesaugt. Und keine Diskussion!“
„Das waren wir nicht! Wir sind nur draußen gewesen“, verteidigte sich Leo, doch Mama schloss die Tür. Kurz darauf plätscherte Wasser – sie duschte. Das war ein sicheres Zeichen, dass es auf Arbeit Knatsch gegeben hatte. Also hing das Dreckwegräumen und Abendbrotmachen wirklich an uns.
Ich schickte Leo zum Auspacken. Falls Mama Currywürste mitgebracht hatte, würden sie sicher auf dem Tisch landen. Ich saugte derweil den Schmutz auf, von dem ich nicht wusste, woher er kam. Auch den Hintereingang putzte ich schnell, denn diese Krümel waren sicher von uns. Aber wieso fand ich auch noch welche in der Stube? Hatten wir neuerdings Trolle im Haus? Vielleicht hatte so einer in meinem Zimmer die Wand bearbeitet. Nichts wie weg mit dem ganzen Dreck, ehe Mama noch mehr davon fand!
Der Staubsauger dröhnte mir die Ohren voll und mein Magen knurrte mit. Die Mikrowelle summte, mit den Currywürsten in ihrem Bauch, eine Brauseflasche zischte.
„Warte bis ich da bin!“, rief ich über den Krach hinweg zu Leo. Doch sie trank und naschte trotzdem.
Ich schob den Staubsauger so ungeduldig in die Abstellkammer zurück, dass ich mit dem Arm gegen den Türrahmen stieß.
„Aua, verdammt!“ Ich warf die Tür mit dem Fuß zu. Mama, die gerade um die Ecke lief, bedachte mich mit einem bösen Blick. Der fiel jedoch kurz aus, denn sie suchte Papa.
„Ist er immer noch nicht da? Jetzt müssen wir ohne ihn essen“, seufzte sie. Der Appetit verging ihr dabei. Nur eine halbe Stulle und zwei Minitomaten mochte sie essen. Ständig fühlte ich ihren Blick auf mir, bis sie nur noch auf die Uhr schaute. Ab da wurde sie wirklich sauer.
Als wir gerade abräumen wollten, klimperten Papas Schlüssel an der Tür. So wie Mama aufsprang, musste ihr ein wütender Spruch auf den Lippen liegen. Doch dazu kam es nicht. Papa umarmte sie, als wäre Mama eine Stoffpuppe. Dann gähnte er laut und sank auf seinen Stuhl.
„Hoffentlich hattet ihr einen fröhlichen Tag“, schnaufte er. Mir kam plötzlich eine Maschine in den Sinn, die Erwachsene verfolgte, um ihre Energie abzusaugen. Wie Geister mussten sie dann umherziehen und Kindern alles verbieten, um selbst wieder zu Kräften zu kommen. Was für eine gruselige Idee!
Papa war zum Glück nicht so schlimm dran. Ich durfte ihm vorm Schlafengehen meine Einhorngeschichte vorlesen, denn ich hoffte, dass ihm dazu noch etwas einfiel. Leo bekam derweil Mama zugeteilt, die sich noch einmal über den Treppenschmutz beschwerte.
„Das waren wir wirklich nicht!“, beteuerte Leo. „Wir sind nur mit Socken oben gewesen.“
In meinem Zimmer schob ich die Bettdecke zur Seite, damit Papa sich neben mich setzen konnte. Allerdings fiel sein Blick sogleich auf die kaputte Stelle an der Wand.
„Das werde ich wohl erst am Wochenende reparieren können“, sagte er, als ich mich bereits suchend umschaute. Hier fehlte etwas. Opas Erinnerung war fort!
„Mama, hast du den alten Ball weggeräumt?“, rief ich nach nebenan.
„Der liegt auf deinem Schreibtisch. Ins Bett gehst du nicht damit!“
„Will ich ja gar nicht!“ Eine Lampe, ein Stiftebecher und ein paar Bücher standen auf meinem Schreibtisch – viel zu ordentlich für mich. Dazu die Fotos von Katze Rosalie aus der alten Wohnung, mein Schreibkram, ein Puzzlespiel, Lineal und Dreieck, ein Glas mit Pinseln, Malfarben, noch mehr Papier und Leos Monopoly-Spiel. Bloß der Ball war nicht da. Wenn Mama hier nur nicht ständig aufräumen würde!
Auch Papa blickte nun umher. Ich ging in Leos Zimmer.
„Auf dem Schreibtisch ist er nicht, Mama!“
„Doch, Tina! Mitten drauf, seit heute früh.“
„Nein, guck doch selber!“
Читать дальше