Christa Burkhardt
Der Patient der Patientin
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Inhaltsverzeichnis
Titel Christa Burkhardt Der Patient der Patientin Dieses ebook wurde erstellt bei
Zitat Zitat Menschen begegnen einander wie Billardkugeln auf grünem Filz. Manchmal knallen sie voll aufeinander, manchmal streifen sie sich nur seitlich. Dann wieder verpassen sie einander völlig. Aber nie bleibt eine Begegnung ohne Wirkung für das ganze Spiel. nach: Isabella Nadolny: Ein Baum wächst übers Dach
Eine zufällige Begegnung
Besuch ihn!
Herr Breitenbach?
Verlässliche Welten
Ein Gefallen
Patrick
Schmerzen
Lebenshilfe
Mach weiter!
Wow!
Im Park
Wohin?
Willkommen zu Hause
Aufgeflogen
Donnerwetter
Feigling
Ausgerechnet Spagetti
Entzug
Ist noch Sommer?
Es geht um Felix
Fortschritte
Keine große Hilfe
Gute Ratschläge
Distanz und Nähe
Glückliche Menschen
Zweifel
Erfahrungen
Albträume
Plätzchenduft
Läuft da was?
Seiltänzer
Hand in Hand
Lisa
Nur ein Anruf
Ein kleiner Schritt
Ein Gefallen
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Impressum neobooks
Menschen begegnen einander wie Billardkugeln auf grünem Filz. Manchmal knallen sie voll aufeinander, manchmal streifen sie sich nur seitlich. Dann wieder verpassen sie einander völlig. Aber nie bleibt eine Begegnung ohne Wirkung für das ganze Spiel.
nach: Isabella Nadolny: Ein Baum wächst übers Dach
Die Brötchentüte raschelte in ihrem Arm, als sie durch die Ladentür in das gleißende Sonnenlicht trat. Frühstück hätten wir. Fehlte noch der Gang zum Briefkasten, und in die Stadtbücherei musste sie auch noch. Verlockend untätig lag der Tag vor ihr. Faul, sonnig und wie für eine Tasse Tee und ein gutes Buch auf dem Liegestuhl im Garten gemacht. Sie bog um die Ecke. Nickte. Nahm kaum wahr, wem sie da gerade halbherzig grüßend begegnet war.
Gleich zum Briefkasten oder später? „Frau Keller?“, fragte eine Stimme. Sie schaute auf. Die Brötchentüte raschelte wieder. Weder Briefkasten noch Stadtbücherei, dachte sie. Hausarzt. „Hallo Frau Jablonski“, lächelte sie. „Auf dem Weg zur Arbeit?“ Unwillkürlich wandte sie den Blick zwei Häuser weiter. Dort lag die Praxis ihres Hausarztes.
Sie hörte Frau Jablonski seufzen und sah, wie sie den Blick senkte. „Nicht mehr“, sagte sie. „Hab‘ mich pensionieren lassen, als es passiert ist.“ Passiert? Pensioniert? Wovon redete diese Frau? Nichts von dem, was sie sagte, passte zu ihrem Plan, einen sonnigen, freien Sommertag mit Nichtstun im Garten zu verbringen. Diese Frau passte nicht in diesen Tag. Diese Frau gehörte hinter den Tresen ihrer Hausarztpraxis. Heute. Schon immer.
Solange sie denken konnte, war Frau Jablonski untrennbar mit der Praxis ihres Hausarztes an der Ecke verbunden. Ebenso wie die blau bezogenen Stühle im Wartezimmer und das Mobile mit den Möwen über der Anmeldung. Ihre großen, wachen Augen hinter der braun umrandeten Brille, die immer lächelten. Das Gefühl, hier gut aufgehoben zu sein, auch wenn man nie wusste, wie lange man würde warten müssen.
Drei Kinder hatte sie mit diesen Augen groß werden sehen. Vorsorgeuntersuchungen, Bronchitis, Mittelohrentzündung, Hautausschlag, Platzwunden, verstauchte Knöchel, Frau Jablonski nahm alles in Empfang, was ihr Chef behandeln würde. Tatsächlich, sie war in den vergangenen 24 Jahren sicher öfter mit einem kranken Kind als mit einer eigenen Krankheit in dieser Arztpraxis gewesen. Sie war Mutter. Sie war berufstätig. Sie war nie krank. Dafür hatte sie keine Zeit gehabt. Sie kannte sich aus mit Hausmitteln, mit der Kraft und Wirksamkeit tröstender, geduldiger Hände, mit der heilenden Wirkung von Zuversicht und Zuwendung. Die Kinder waren aus dem Haus. Der Gang zum Arzt noch seltener.
„Sie arbeiten gar nicht mehr bei Dr. Breitenbach?“, fragte sie. Frau Jablonski schüttelte den Kopf. „Ich hätte gern noch bis 65 gemacht. Das wollte ich eigentlich immer. Aber als es passierte, war alles anders. Die Stimmung. Die Kollegen. Dr. Wels ist eben nicht Dr. Breitenbach. Sie wissen schon, ich hab‘ doch immer für Dr. Breitenbach gearbeitet.“ Sie nickte und wieder raschelte die Brötchentüte. Natürlich wusste sie, dass es sich um eine Gemeinschaftspraxis handelte. Dr. Wels und Dr. Breitenbach. Sie war mit ihrer Familie Patientin bei Dr. Breitenbach gewesen. Dr. Wels kannte sie vom Sehen und von einer Urlaubsvertretung mit ihrer fiebernden Tochter. Und deshalb war auch ihr klar: Dr. Wels war nicht Dr. Breitenbach.
„Ich weiß“, lächelte sie. „Mir ist Dr. Breitenbach auch lieber.“ Dr. Breitenbach. Seine ruhige Art. Seine einfühlsamen Fragen. Sein warmer Blick. Seine angenehme Stimme. Auch wenn man nur wenige Minuten in seinem Sprechzimmer verbrachte, man hatte immer den Eindruck, dieser Mann nimmt sich Zeit, nimmt einen ernst, will einem helfen und nicht nur schnell ein paar Pillen verschreiben.
„Aber Sie wissen ja: Ich bin keine besonders gute Kundin. Toi, toi, toi, ich fühle mich gesund.“ Sie lachte und die Brötchentüte raschelte wieder. „Aber bitte richten Sie Dr. Breitenbach aus, dass ich ihm nicht untreu geworden bin. Ich war einfach nur seit zwei Jahren nicht mehr so krank, dass ich ihn – und Sie natürlich auch – gebraucht hätte.“
Und da geschah etwas völlig Unerwartetes mit Frau Jablonskis großen, wachen Augen. Frau Jablonskis Augen füllten sich mit Tränen. „Sie wissen es gar nicht, oder?“, fragte sie. „Nein, was denn?“ Allmählich wurde sie neugierig. Und ungeduldig. Und beunruhigt. Frau Jablonski war eine Seele von Mensch, immer die Ruhe selbst und die geborene Arzthelferin. So aufgelöst kannte sie sie gar nicht. Sie wartete.
„Er hatte einen Unfall“, sagte Frau Jablonski schließlich. „Er praktiziert nicht mehr. Er lebt in einem Heim. Es – es geht ihm nicht gut.“ Wieder raschelte die Brötchentüte. Unwillkürlich hatte sie sie fester gepackt. Sie riss die Augen auf. „Einen Unfall? Dr. Breitenbach?“ Sie hatte tatsächlich keine Ahnung gehabt.
„Vor einem Jahr schon“, erzählte Frau Jablonski weiter, „keiner dachte, dass er überhaupt überlebt. Er lag im Koma. Mehrere Wochen. Und als er wieder aufgewacht ist, konnte er sich nicht mehr bewegen. Zuerst dachten sie noch, es würde besser mit der Zeit. Medikamente, Physio, Operationen, sie haben alles versucht. Wurde aber nicht besser. Nun liegt er da.“
Frau Jablonski schaute sie mit ihren großen Augen, die ihr so vertraut und so lieb waren, an. „Sie haben ihn aufgegeben. Und er sich auch. In der Praxis war es seitdem nicht mehr das Gleiche. Ohne ihn. Also habe ich mich pensionieren lassen. Noch ein Jahr ohne Dr. Breitenbach? Das hätte ich nicht geschafft. Naja, nun habe ich Zeit für meine beiden Enkel. Aber ich muss oft an ihn denken, das können Sie mir glauben.“
Sie ging nicht zum Briefkasten. Und auch nicht in die Stadtbücherei. Dr. Breitenbach. Ihr Dr. Breitenbach. Ein Vierteljahrhundert, ihr halbes Leben kannten sie sich. Ein Unfall. Schon vor einem Jahr. Wie konnte es sein, dass sie davon nichts mitbekommen hatte? Er hatte um sein Leben gekämpft und sie hatte keine Ahnung.
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