1 ...6 7 8 10 11 12 ...15 Auch sein neues Opfer würde diese Lektion erfahren. Gleich heute Nacht.
Die Tür öffnete sich erneut, brachte einen Schwall kalter Luft mit und dann sah er sie. Sie ließ ihren Blick schweifen, ein wenig eingeschüchtert von der lärmenden Menschenmenge. Natürlich konnte sie ihn in der dunklen Ecke nicht wahrnehmen und sie wusste nicht, wie er aussah. Damit hatte er Zeit, sie noch ein wenig zu beobachten. Ihr hübsches Gesicht, das nun so gar nicht selbstsicher wirkte, ihr gekünsteltes Lächeln, auffordernd und schüchtern zugleich. Er musste sie einfach noch ein wenig zappeln lassen! Unter dem Mantel trug sie ein rotes, kurzes Kleid. Wie billig! Er hatte rot noch nie leiden können!
Anstatt durch das Lokal zu gehen blieb sie einfach, wo sie war, starrte hilflos in das Halbdunkel. Jetzt sprach sie der Barkeeper an und nahm ihre Bestellung auf. Sie setzte sich halb auf einen Hocker, ließ ihre Blicke bemüht lässig schweifen. Ein Glas mit Gin and Tonic wurde vor sie hingestellt und sie stand wieder auf, sah sich unschlüssig um. Dummes Frauenzimmer! Er erhob sich ein wenig, winkte. Ein erleichtertes Lächeln glitt nun über ihr Gesicht. Sie kam zögernd auf ihn zu, hielt sich krampfhaft an der Handtasche fest.
„Butterfly0406“?
Beinahe hätte er sie in dem Lärm nicht gehört. Er nickte und lächelte. „Freut mich, dich endlich kennen zu lernen.“
06. Oban, 16. November 2013
Der verdammte Nebel lag noch immer über der Bucht, kroch in sämtliche Ritzen wie ein hungriges Tier auf Beutezug, das seine feuchten Tatzen nach mir ausstreckte. Um diese Zeit ein leider häufig auftretendes Phänomen. Gegen Mittag ließ ich alle Rollläden herunter, um das milchige Weiß auszusperren. Aber die Kälte und Feuchtigkeit spürte ich trotz der modernen Ölheizung, die Tante Emily hatte einbauen lassen, noch immer. Zum ersten Mal seit langem wusste ich absolut nichts mit mir anzufangen. Ich tigerte in dem kleinen Wohnzimmer mit den altmodischen Eichenmöbeln auf und ab, nahm ein Buch nach dem anderen zur Hand und legte es wieder hin. Gedichte. Normalerweise liebte ich sie – aber nicht heute.
Ich hatte unruhig geschlafen, von Träumen gequält, die sich beim Aufwachen verflüchtigten und einen vagen Eindruck von Traurigkeit und Schmerz in mir hinterließen. Geistesabwesend kaute ich an meinem Müsli herum und dachte an Elinor. Sie hatte sich gestern Abend ziemlich kühl von mir verabschiedet. Natürlich war sie wegen der Weigerung, ihr von meinem Problem zu erzählen, eingeschnappt, auch wenn sie es nicht offen zeigte. „Gegenseitiges Vertrauen ist die Basis von Freundschaft“, meinte sie noch, bevor sie ging. „Danke für das Essen“, war alles, was ich herausbrachte. Sie nickte hoheitsvoll und marschierte die Stufen zur Straße hinunter, mit geradem Rücken, ohne sich noch einmal umzudrehen. Ich sah ihr zu, wie sie in den Wagen stieg und davonfuhr. Sie würde sich bestimmt wieder beruhigen. Elinor war nie lange beleidigt, aber ich mich plagte trotzdem das schlechte Gewissen.
Den ganzen Vormittag über ertappte ich mich insgeheim dabei, wie ich auf das Telefon starrte oder lauschte, in Erwartung von Elinors Anruf. Natürlich war das Unsinn. Ich musste den ersten Schritt tun, aber ich konnte nicht. Wozu sollte ich sie mit etwas belasten, das längst vorbei war? Es hatte Spuren bei mir hinterlassen, ohne Frage. Aber ich wollte auf keinen Fall die Vergangenheit wieder zum Leben erwecken.
Als ich das Frühstücksgeschirr auf die Anrichte stellte, fiel mir die Karte auf, die mir der Fremde gestern gegeben hatte.
Es könnte sein, dass der Mörder Ihrer Mutter wieder zugeschlagen hat.
Was meinte er damit? Natürlich ging das Weltgeschehen zum größten Teil an mir vorbei, das war eben so, wenn man sich den Medien verweigerte.
Ich betrachtete die Karte. Nobles Cremeweiß mit schwarzem Aufdruck in einer schön geschwungenen Schrift. Er war kein Journalist, ein Anwalt. Das Büro hatte eine Adresse in Mayfair in London. Was mochte ihn veranlasst haben, mich aufzusuchen und dann so schnell aufzugeben? Aber vielleicht hatte er das ja gar nicht? Ich folgte einem Impuls und schlich zur Haustür, öffnete sie einen Spaltbreit. Der Laurel Crescent lag im Nebel vor mir, die Straßenbeleuchtung verschwommene gelbliche Flecken im diffusen Zwielicht. Ein Uhr mittags und die Welt war in Düsternis und Stille versunken.
Ich hielt es mit einem Mal nicht mehr aus. Der Satz von Mr. Holden schwebte wie ein drohendes Beil über mir. Dazu Elinor, die sich nicht meldete und mich dadurch zum einsamsten Menschen von ganz Schottland machte. Ich musste etwas tun. Ich zog die Laufschuhe und den Anorak an und verließ das Haus. Bevor sich das Gefühl von bohrenden Blicken in meinem Rücken einstellen konnte, begann ich zu rennen, folgte der Laurel Road hoch Richtung Norden. Hier war die Gegend noch dünner besiedelt und ich lief hauptsächlich durch bewaldetes Gebiet. Meine Füße wirbelten das modrige Laub auf. Der Geruch stieg in meine Nase und hinterließ in mir einen flüchtigen Eindruck von Tod und Vergänglichkeit. Ich schloss alle Gedanken aus, konzentrierte mich auf die Bewegung der Beine, hörte nichts als meinen Atem. Selbst das Geräusch der Schritte wurde durch den Nebel gedämpft. Ich lief, atmete kontrolliert. Die Feuchtigkeit drang in meine Lungen und langsam merkte ich, wie ich mich entspannte. Laufen half mir immer, den Kopf von nicht sortierten Eindrücken und Erinnerungen zu befreien.
Ich traf niemanden, alle Welt schien sich in den eigenen vier Wänden verbarrikadiert zu haben.
Feuchtigkeit legte sich mit der Zeit auf Haare und Gesicht. Ich roch das Meer und spürte Salz auf meinen Lippen. Keuchend hielt ich inne, schlug dann die Richtung zum Hafen ein. Gedämpft hörte ich bald darauf den Verkehrslärm und sehnte mich plötzlich nach Menschen. Nach einer warmen Tasse Tee und frischen Scones.
Als ich in die Craigard Road einbog, warf ich einen Blick auf Elinors Café. Es war geschlossen, wie immer an Samstagen im Spätherbst. Auch in der Wohnung brannte kein Licht. Natürlich, es war Sarahs Edinburgh-Wochenende und Elinor nützte bestimmt die Gelegenheit für einen Ausflug, so wie sie es angekündigt hatte.
Ich bog in die George Street ein, eine der Hauptstraßen in Oban. In den Sommermonaten war sie belebt, aber jetzt herrschte nur mehr mäßiger Verkehr. Als ich an der Whisky-Brennerei vorbeiging, sah ich ein Grüppchen Männer in Anzügen, die sich vor dem Eingang des Besucherzentrums scharten. Der Anblick der schwarz Gekleideten vor dem dunklen hohen Gebäude erinnerte mich an eine Trauergesellschaft. Mit einem Mal graute mir vor den langen, kalten Abenden, wenn die Dunkelheit den halben Tag für sich eroberte.
Ich lief weiter die George Street entlang, in Richtung des Fährterminals, bis ich das Caledonian Hotel erreichte. Im dazugehörigen Café gab es immer frische Scones mit Tee, eigentlich ein Angebot für Touristen, aber die Preise waren jetzt außerhalb der Saison so moderat, dass ich mir einen kleinen Imbiss gönnen durfte.
Warme, nach Gebäck und Kaffee duftende Luft und Stimmengewirr empfing mich. Das Café war gut besucht, alle Tische bis auf drei besetzt. Ich ging an die Bar, bestellte Tee, Sandwiches und Scones, suchte mir einen Platz im hintersten Winkel und zog meine Jacke aus. Mit den Fingern ordnete ich mein feuchtes Haar.
Am Nebentisch debattierte eine ältliche Damenrunde in Strick-Twinsets, karierten Faltenröcken und mit Perlenketten um den Hals. In der gegenüberliegenden Ecke saß ein Ehepaar in mittlerem Alter. Ich kannte die beiden vom Sehen und nickte ihnen grüßend zu. Daneben hatte ein junges Paar alle Mühe, die beiden quirligen Kleinkinder im Zaum zu halten.
Ich lehnte mich zurück, beobachtete. So war es mir am liebsten. Unter Menschen zu sein, ohne mich mit ihnen unterhalten zu müssen. Was für ein seltsamer Vogel ich doch geworden war!
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