Ich blätterte weiter, entdeckte noch mehr Kindheitserinnerungen. Andy Murphy, der Mittlere der drei Murphy-Jungs, mein heimlicher Schwarm, ein schmaler Junge mit dunkler Haut, schwarzen Locken und braunen Augen, genau wie sein Vater. An einige der Namen erinnerte ich mich kaum noch. Stella McBride, Eileen Donovan, Stanley Higgs.
Seltsam, da fehlte eine Seite, klar ersichtlich durch die ausgefransten Ränder. Ich hatte das bestimmt nicht getan, mein Poesiealbum war mir damals heilig. Unten in der Ecke konnte ich ein mit rotem Stift gemaltes „S“ erkennen. Wer hatte da hineingeschrieben und danach die Spuren tilgen wollen? Ich erinnerte mich mit bestem Willen nicht daran.
In der Mitte des Buchs stieß ich auf den Eintrag meiner Mutter. Ihre zierliche, gestochene Schrift, in der sie Lord Byrons Zeilen niedergeschrieben hatte.
She walks in beauty, like the nightOf cloudless climes and starry skies;And all that’s best of dark and brightMeet in her aspect and her eyes:Thus mellow’d to that tender lightWhich heaven to gaudy day denies.
Du bist das Beste, was mir je geschehen ist. In Liebe, Deine Mutter .
Das Blatt trug das Datum meines zehnten Geburtstags.
Gleich dahinter fand ich Brians Seite.
Für meine Prinzessin April – bewahre immer den Frühling in deinem Herzen! … stand da in flüchtiger, großzügiger Handschrift. Dazu die Zeichnung eines Schmetterlings, die Flügel weit geöffnet, verschlungene, zarte Muster darauf.
Ach Brian! Was hast du nur getan …
Etwas stieg heiß in mir auf und ich musste schlucken. Meine Augen begannen zu brennen, aber ich hatte längst keine Tränen mehr. Eine Ewigkeit lang starrte ich auf den Schmetterling, auf das weiße Papier, die geschriebenen Zeilen, ohne auch nur irgendetwas denken zu können.
Erst nach einer Weile fand ich die Kraft, das Fotoalbum zur Hand zu nehmen.
Ich schlug es auf, um meine Reise in die Vergangenheit fortzusetzen. Die Bilder waren chronologisch geordnet. Fotos von meinen Großeltern, den McPhersons. Das Cottage am Loch Fada, das wir auch später bewohnt hatten. Mein Vater, der stolz seinen Fang, einen riesigen Hummer, präsentierte. Ich betrachtete sein Gesicht, den dunklen Haarschopf, sein Lächeln und alles an ihm erschien mir seltsam fremd.
Das Hochzeitsfoto meiner Eltern, Mum im schlichten weißen Kleid, die schwarzen Haare zu einer kunstvollen Frisur hochgesteckt. Mein Vater im dunklen Anzug, auch dieser Anblick wirkte unvertraut.
Schließlich ich als Baby, ein Schnappschuss, der gleich nach der Geburt aufgenommen worden sein musste. Ein winziges, runzeliges Gesicht, das voller Gram in die Kamera blickte, als wüsste es bereits, was ihm bevorstand.
Dann ein paar Bilder aus der Schulzeit. Klassenfotos, Familienfeiern. Auch eines von meinem zehnten Geburtstag. Meine Mutter hatte eine Party gegeben, obwohl das bei uns sonst nicht üblich war. Ich selbst, mein Haar eine wallende Lockenmähne, zur Feier des Tages durfte ich es offen tragen. Ich präsentierte mich in einem neuen T-Shirt mit aufgestickten Blüten, dazu eine hellblaue Weste und Jeans. Stolz lächelte ich in die Kamera. Neben mir stand meine Mutter und ich stellte wieder fest, wie sehr wir uns ähnlich sahen. Brian, der betont lässig in die Kamera grinste. Sein Anblick brachte noch immer mein Herz zum Stolpern und ich konnte mir nicht vorstellen, dass er …
Ich stoppte meine Gedanken abrupt und betrachtete die anderen Personen. Da war noch die gestrenge Mrs. Phibbs, unsere nächste Nachbarin, deren Cottage sich fünf Autominuten in Richtung Portree befand, daneben ihre Söhne Tom und Lewis, mit karottenroten Schöpfen. Dahinter Mr. Phibbs, eindeutig der Erzeuger der beiden Jungs, wie seine Haarfarbe bewies und Miss Milly, die meiner Mutter manchmal im Laden half.
Meine Freundinnen Brianna und Stella, die drei Murphy-Jungs.
Hamish Ferguson, mein Patenonkel, seine große, unbeholfen wirkende Gestalt auf dem Lehnstuhl, die riesigen Hände gefaltet. Er schien sich sichtlich unwohl zu fühlen, starrte mit von der Kamera abgewandtem Gesicht finster auf Brian. Hamish hatte meine Mutter geliebt, wie ich erst später mitbekam.
Dann noch Frank Shelby, mein Lieblingslehrer. Er unterrichtete Englisch und Geschichte, ein rundlicher Mann mit Stirnglatze und Brille.
Etwas abseits entdeckte ich Reverend Jack Brennan. Seltsam, ich hatte ihn völlig vergessen. Kein Wunder, er war ein unauffälliger blasser Mann mit dünnem, sandfarbenem Haar. Ich fragte mich, warum Mum ihn eingeladen hatte. Wir gingen nicht zur Kirche, auch wenn wir katholisch waren. Aber ich erinnerte mich, dass er uns manchmal besuchte und mir aus der Bibel vorlas. Ich mochte seine tiefe, melodiöse Stimme. Er hatte Portree irgendwann Anfang Herbst verlassen.
Ich legte das Album zur Seite. Es weckte zwar Erinnerungen in mir, aber es half mir nicht weiter.
Ich wusste, was damals geschehen war. Man brachte es mir im Waisenhaus schonend bei, als sie glaubten, ich könnte die Wahrheit verkraften. Später bekam ich auch den Polizeibericht. Aber es war, als würde ich die Geschichte einer anderen Person erfahren oder einen Horrorroman lesen. Der Anblick der Fotos in der Akte brannte sich mir auf immer ein, aber ich erkannte die Tote darauf nicht als meine Mutter. Eine fremde Frau, die Furchtbares erleiden musste. Natürlich wusste ich auch, was mit mir geschehen war, weil man es mir sagte. Aber ich erinnerte mich nicht an diese drei schlimmsten Tage meines Lebens, wollte es nicht – nie wieder!
07. Oban, 17. November 2013
Dunkelheit schließt mich ein. Ich kann nicht sehen, nicht atmen, meinen Mund nicht öffnen, um zu schreien. Aber ich muss schreien! Denn er ist wieder da, ein riesiger Schatten mit glühenden Augen. Das Gesicht eine entsetzliche, bleiche Fratze. Hände packen mich, Finger graben sich in mein Fleisch, zerren an mir. Er schleudert mich zu Boden. Ich liege da wie gelähmt, wage nicht, mich zu rühren. Geh! Bitte, bitte, geh einfach! Lass mich in Ruhe!
Er flüstert, zischt, ich möchte die Ohren zuhalten, kann die Hände nicht bewegen. Ohne Unterlass diese Stimme. Kriecht in den Kopf, setzt sich in meinem Gehirn fest, lässt sich nicht aussperren. Vergessen, ich will vergessen, lass mich …
Ich fuhr hoch, starrte in das sanfte Licht der Nachttischlampe. Mein Herz raste, der Hals schmerzte. Benommen sah ich mich um. Atmete erleichtert auf, als ich mich in der vertrauten Umgebung des Schlafzimmers fand. Kitty starrte mich mit ausdruckslosen Augen von der Kommode an, zwei schwarze Löcher in dem gespenstisch weißen Gesicht. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, die Puppe hervorzuholen. Der Wecker zeigte halb fünf. Ich schob die durchgeschwitzte Decke zurück und stand auf. Wenigstens den klatschnassen Pyjama musste ich wechseln und einschlafen konnte ich ohnehin nicht mehr. Ich schlüpfte in meinen Jogginganzug und zog dicke Socken an. Mir war noch immer kalt, also ging ich in die Küche und setzte den Teekessel auf, dachte an Elinor. Sie hatte sich auch am Abend nicht gemeldet, weder am Festnetz noch am Handy. Vielleicht verbrachte sie die Nacht in Glasgow mit ihrem neuen Lover. Butterfly0406. Es würde ihr ähnlichsehen, dass sie sich aus purem Trotz mit ihm traf, nur um mir zu beweisen, dass ich unrecht hatte und – ihrer Meinung nach – Gespenster sah. Aber der Gedanke vertrieb meine Unruhe nicht, im Gegenteil. Am liebsten hätte ich sie noch einmal angerufen, aber das war zu dieser Tageszeit unmöglich. Am besten, ich lief noch einmal eine Runde, um diese bösen Ahnungen zu vertreiben. Bewegung in der frischen Luft würde mir bestimmt guttun, auch wenn es noch wirklich früh war. Doch dann begegnete ich wenigstens niemandem.
Um fünf Uhr verließ ich das Haus. Ich wollte zum MacCaig’s Tower hoch, dort hatten Elinor und ich uns kennen gelernt. Auch sie joggte gerne, wenn sie Zeit dazu fand.
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