Er betrachtete das Schmuckstück. „Ich habe das Stück, das bei Cynthia gefunden wurde, nur auf Fotos gesehen. Aber es könnte die gleiche Arbeit sein.“
Ich sah mir die Brosche widerwillig an. Bernstein und Silberdraht, zu einem filigranen Kunstwerk geformt. Ich spürte das Gewicht auf meiner Handfläche. Dieses Ding hatte auch Elinors Mörder in der Hand gehalten, bevor er es auf ihrer Brust platzierte. Ein Frösteln überlief mich und ich legte es schnell auf den Tisch. Das Schmuckstück funkelte beinahe obszön.
Irgendetwas stimmte damit nicht, aber ich konnte beim besten Willen nicht sagen, was es war.
Holden holte das Handy heraus und fotografierte die Brosche, auch ihre Rückseite. „Damit wir etwas in der Hand haben, wenn Sie sie morgen der Polizei übergeben.“
Er griff jetzt nach dem Umschlag, der noch immer auf dem Tisch lag. „Wenn Sie tatsächlich nicht zu erschöpft sind, möchte ich Ihnen etwas zeigen.“ Er öffnete ihn und entnahm einen Stapel Papier. „Wie gesagt, ich stelle seit einem halben Jahr Nachforschungen zum Tod meiner Schwester an.“ Der sachliche Tonfall verriet den Anwalt, aber ich bemerkte sehr wohl das leichte Zittern in seiner Stimme. „Und ich habe das hier gefunden.“
Ich nippte an meinem Wasserglas. „Was ist das?“
„Mordfälle.“ Er hob das erste Blatt hoch.
„Marsha Kendall, aufgefunden am 10. November 2011 in Manchester im Heaton Park. Betäubt, die Schamlippen zugenäht, erwürgt, drei Kreuze post mortem in die Haut geschnitten, abgelegt mit weit ausgebreiteten Armen und offenen Augen, der Körper mit einem weißen Tuch bedeckt. Auf der Brust eine Schmetterlingsbrosche.“
Er nahm das nächste Blatt.
„Susan Dorsley, 5. November 2006, Cardiff, Wales, Sophia Gardens. Erwürgt. Gleiche Vorgehensweise.
Patricia Silver, 17. November 2005, Edinburgh, Dean Gardens. Wieder das gleiche Szenario.“
Mich fröstelte plötzlich. „Hören Sie auf! Wie viele?“
Er sah mich so intensiv an, dass ich seinem Blick ausweichen musste.
„Dreizehn, wenn man jetzt Ihre Freundin und Ihre Mutter mitzählt.“
Oh Gott! Was hatte das zu bedeuten?
Holden sprach ungerührt weiter. „Ich gehe davon aus, dass Maureen McPherson das erste Opfer war. Der nächste Mord geschah zwei Jahre später, bis zum Jahr 2006 regelmäßig jeden November. Dann war eine Pause von fünf Jahren. 2011 ging es wieder los.“
Ich schluckte. Mein Hals brannte noch immer und mir schwirrte der Kopf. „Glauben Sie … das ist immer der gleiche Mörder?“
Er zuckte mit den Schultern. „Ich nehme es an. Es könnte auch ein Nachahmungstäter darunter sein. Aber eines weiß ich: Ich will das Monster, das meine Schwester ermordet hat, finden und sollte das die einzige Aufgabe für den Rest meines Lebens sein!“ Seine Augen glühten und seine blassen Wangen röteten sich.
Er merkte, dass ich ihn fassungslos anstarrte und seine Miene glättete sich. „Verzeihen Sie“, sagte er, nun wieder ganz der beherrschte Gentleman.
„Schon gut. Aber was erwarten Sie eigentlich von mir? Sie haben hier bestimmt auch die Akte meiner Mutter.“ Ich wies mit dem Finger auf den Stapel und spürte, wie das Grauen am Rand meines Bewusstseins kratzte, als er stumm nickte.
„Wenn Sie die Unterlagen aufmerksam gelesen haben, wissen Sie, dass ich mich an nichts erinnern kann. Ich kann Ihnen nicht helfen.“
Er legte die Akten zu einem ordentlichen Stapel zusammen. „Ich hoffte, wir könnten miteinander die Wahrheit herausfinden.“
Ich lachte bitter. „Dachten Sie, Sie könnten eine Art Therapie mit mir machen? Hypnose? Kognitive Befragung? Konfrontationstherapie? – Vergessen Sie es! Das habe ich alles hinter mir. Es hat überhaupt nichts gebracht. Etwas in mir will sich einfach nicht erinnern und das hat bestimmt seinen guten Grund.“
„Sie wollen also nicht wissen, wer Ihre beste Freundin ermordet hat? Oder Ihre Mutter?“
Ich lachte noch einmal, es klang wie das heisere Bellen eines Hundes, der sich vergeblich um Aufmerksamkeit bemüht hatte. „Meine Mutter? Aber das weiß ich doch. Ich dachte, Sie hätten die Akte gelesen? Es war Brian. Brian Connolly, ihr Lebensgefährte.“
Der Mann, den ich bewunderte, den ich mir als Vater wünschte.
Ich brach in Tränen aus.
08. Portree, Clach Ard, Ende Juni 1996
„Warum machst du keine Blumen – oder Menschen? Oder Katzen und Hunde?“ Ich blickte zu Brian hoch. Wir saßen zusammen auf dem Bootssteg, hatten die Hosen hochgekrempelt und hielten die Zehen in das Wasser. Meine glichen weißen Knubbeln, während Brians dunkel und kaum zu sehen waren. Ich wäre auch gerne so braun gebrannt wie er gewesen, aber meine Haut nahm einfach keine Farbe an. Ich würde nie ein Pirat werden so wie er. Etwas, das mir heimlichen Kummer bereitete.
„Ich mag nun einmal Tiere lieber. Alles was zart ist und fliegen kann“, brummte er.
Ich betrachtete ihn unter halb geschlossenen Lidern. Er stützte sich mit den Händen hinter dem Rücken ab und hielt sein Gesicht in die Sonne.
Mein Blick schweifte zu Unicorn Island , wie ich die kleine Insel nannte, die sich ein paar Bootslängen vom Ufer entfernt aus Loch Fada erhob. Ich stellte mir immer vor, sie wäre tatsächlich von den Einhörnern aus unserem Lieblingsgedicht bewohnt. Natürlich zeigten sie sich nur zu besonderen Anlässen. Vor allem dann, wenn der Gesang der Wasserfeen sie aus ihrem Versteck lockte. Ich war schon manches Mal an nebeligen Abenden heimlich aus dem Haus geschlichen, um nach ihnen Ausschau zu halten. Und ab und an hatte ich tatsächlich den Eindruck, sie auf der Insel zu sehen. Weiße, zarte Schemen, die verschwammen, sobald man den Blick auf sie richtete.
„Du träumst schon wieder von deinen Einhörnern, Kleine.“ Brian lächelte.
Ich nickte. Ihm hatte ich mein Geheimnis anvertraut, weil ich wusste, dass er mich nicht auslachen würde.
„Du könntest auch einmal Einhörner machen“, sagte ich verträumt.
„Mmmh. Und Nessie vielleicht auch.“ Er grinste.
„Du willst mich nur aufziehen.“ Ich sah ihn so streng an, wie ich es eben vermochte. „Du weißt, dass ich Nessie nicht mag. Es ist hässlich.“
„Da hast du recht. Einhörner sind bei weitem hübscher.“
Er richtete den Blick auf das Cottage und ich wusste, dass er an Mum dachte.
In meine Nase stieg der Duft von frisch gebackenem Brot. Ich schnupperte gierig, bekam schon wieder Hunger, obwohl wir gerade ein ausgiebiges Sonntagsfrühstück genossen hatten.
Anstatt eines Magens hast du wohl ein riesiges Loch , schimpfte meine Mutter manchmal. Es stimmte. Ich konnte Unmengen verdrücken, nahm aber nicht zu.
Mrs. Phibbs bezeichnete meinen Heißhunger als vorpubertäre Fressanfälle , was in meinen Ohren sehr gebildet, aber nicht wirklich nett klang. Doch das war nun einmal Mrs. Phibbs.
„Deine Mum hat bald Geburtstag“, sagte Brian in die mittägliche Stille, die nur vom Summen der Fliegen unterbrochen wurde.
„Ja, nächsten Sonntag.“ Ich wusste, dass sie keine Party geben würde, wie ich es mir gewünscht hätte. Ein dreiunddreißigster Geburtstag war eben nicht so etwas Besonderes.
„Ich habe ein Geschenk für sie.“ Brian griff in die Brusttasche seines Hemdes. „Glaubst du, der gefällt ihr?“
Er öffnete die Handfläche und ich hielt den Atem an. Ein Schmetterling. Feiner Silberdraht, zart geschwungen, die Flügel mit tiefblauen Steinen verziert.
„Das ist ein Schwalbenschwanz. Siehst du die Spitzen an den Flügeln? Daran erkennt man sie.“
„Wunderschön. Das ist der Schönste, den du je gemacht hast“, hauchte ich hingerissen. Mit der Fingerspitze tupfte ich vorsichtig auf einen der winzigen Steine. „Was ist das?“
„Lapislazuli. Ich finde, er hat fast die gleiche Farbe wie die Augen deiner Mum. Und wie deine“, fügte er hinzu.
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