„Ja, wir kennen uns“, meinte Holden seelenruhig.
Ich starrte ihn an. Seine jetzt wieder ausdruckslose Miene verriet nichts. Ich zuckte mit den Schultern. Plötzlich war mir alles egal, selbst wenn er Elinors Mörder sein sollte – eine irgendwie absurde aber gleichzeitig vielleicht mögliche Schlussfolgerung, denn was machte er plötzlich hier? – kümmerte es mich nicht. „Es ist in Ordnung.“
„Also gut.“ Wilkins ließ seinen Blick zwischen Holden und mir schweifen, schien aber dann überzeugt, dass ich in guten Händen war und wandte sich an mich. „Ich werde Sie später anrufen, wäre schön, wenn Sie sich in den nächsten Tagen zur Verfügung halten könnten.“
„Ja, natürlich.“ Ich raffte die Decke vor der Brust zusammen und stand auf.
Holden musterte mich besorgt. „Geht es?“
Ich nickte stumm, versuchte, gegen die Lähmung in meinem Inneren anzukämpfen, schaffte es nicht. „Was tun Sie hier? Was wollen Sie?“ Die Worte quälten sich mühsam über meine Lippen.
„Ich war besorgt. Sie hatten sich nicht gemeldet.“
Ich brachte ein Schnauben zustande. „Warum sollte ich?“
Er blieb stehen, sah mich durchdringend an. „Sie haben den Umschlag nicht geöffnet.“ Es war eine Feststellung, keine Frage.
„Noch einmal: Warum sollte ich?“
Er hob den Kopf, sah zum Folly hoch. „Deswegen.“
„Ich weiß nicht, was Sie meinen.“
„Wenn Sie verstehen wollen, müssten Sie mich anhören. Aber vielleicht ist jetzt nicht gerade der günstigste Zeitpunkt. Sie stehen unter Schock.“
Die Taubheit in meinem Inneren wurde von einem raschen, schneidenden Schmerz durchbrochen. Ich biss mir auf die Lippen. „Sagen Sie, was Sie zu sagen haben und dann verschwinden Sie.“
„Ich fürchte, so einfach ist es nicht.“ Sein Gesichtsausdruck wechselte von Trauer zu Zorn. Aber er hatte sich sofort wieder in der Gewalt. „Ich bringe Sie nach Hause. Sie sollten sich ausruhen.“
„Ach ja? Und warum sollte ich Ihnen vertrauen?“ Ich starrte ihn herausfordernd an.
Er lächelte verhalten und hielt meinem Blick stand. „Das müssen Sie selbst entscheiden.“
Er sah nicht aus wie ein Mörder. Gut, das musste nichts heißen. Aber so wagemutig – oder dumm – wäre er wohl nicht, mich vor den Augen der Polizei mitzunehmen und dann umzubringen. „Na schön. Gehen wir.“ Ich warf noch einen verstohlenen Blick auf die Mauern des MacCaig’s Tower. Dieser malerische Ort hatte für immer seine Unschuld verloren.
Holden führte mich schweigend ein Stück den Weg hinunter zu einem großen schwarzen Wagen, einem Bentley Continental. Einige davon hatte ich damals in London gesehen. Er öffnete die Wagentür. Der Duft nach Leder und exotischem Holz empfing mich. Ich starrte auf meine schmutzigen Turnschuhe, aber Holden bedeutete mir mit einer Handbewegung, einzusteigen. Ich ließ mich auf den weichen Ledersitz fallen, hob die Beine und stellte sie vorsichtig ab.
Er startete den Motor und wir fuhren immer noch schweigend das kurze Stück zum Laurel Crescent.
Er stieg vor mir aus und öffnete die Beifahrertür. „Ich komme mit hinein.“
Als ich leicht den Kopf schüttelte, hob er die Augenbrauen. „Ich habe versprochen, mich um Sie zu kümmern. Keine Widerrede.“
Meine Hände zitterten so sehr, dass ich den Schlüssel nicht ins Schloss stecken konnte. Er nahm ihn mir behutsam ab und sperrte auf. Er musste den Kopf einziehen, um ihn sich nicht am Türrahmen anzustoßen.
„Hübsch haben Sie es hier. Klein und überschaubar.“
Mir wurde bewusst, wie schäbig mein winziges Zuhause auf ihn wirken musste. Er hatte bestimmt eine tolle, große Wohnung in London, womöglich mit Blick auf die Themse.
„Sie sehen aus, als könnten Sie etwas Stärkeres als Tee brauchen.“ Damit ging er voran in die Küche. Er füllte den kleinen Raum mit seiner Präsenz. Ich roch sein After Shave, einen unaufdringlichen, sehr maskulinen Duft.
„Es müsste noch irgendwo Whisky sein. Im Schrank neben der Spüle.“
Er bückte sich und holte die Flasche heraus.
„Gläser sind hier.“ Ich machte eine matte Handbewegung in Richtung Geschirrschrank und sah ihm zu, wie er ein Glas herausholte und gut zwei Fingerbreit der bernsteingelben Flüssigkeit eingoss. Er drückte es mir in die Hand.
Der Whisky, ein Oban 14, war ein Geschenk von Elinor gewesen, erinnerte ich mich. Wieder spürte ich den Kloß in meinem Magen, und ich kippte den Inhalt des Glases in zwei großen Schlucken hinunter. Die scharfe Flüssigkeit brannte in der wunden Kehle und Tränen traten in meine Augen. Gleich darauf sammelte sich angenehme Wärme im Magen und löste den Kloß auf. Der salzige Nachgeschmack des Whiskys im Mund ließ mich glauben, ich hätte gerade ein Glas Tränen geschluckt.
Ich zuckte zusammen, als Holden nach meinem Arm fasste und mich sanft auf einen der Küchenstühle drückte. Er setzte sich mir gegenüber auf den zweiten Stuhl. Sein Blick fiel auf den Tisch. „Ach, hier ist ja mein Kuvert.“ Er machte keine Anstalten, es aufzunehmen und ich starrte es an. Es erschien mir wie das manifestierte Zeichen des Unheils, das ich versucht hatte, zurückzudrängen. Ein Fehler, wie ich einsehen musste. Die Vergangenheit hatte mich auf brutale Weise wieder eingeholt.
Stille breitete sich zwischen uns aus. Der Whisky dämpfte meine Empfindungen. Ich fühlte mich losgelöst und leicht, gleichzeitig nah und unendlich fern. Das hier geschah alles nicht wirklich. Ich saß nicht mit einem mir völlig Fremden in meiner Küche und Elinor war nicht tot.
Nach einer Weile brach Holden das Schweigen. „Wenn Sie sich ausruhen möchten, sagen Sie Bescheid. Ich werde hierbleiben, ich lasse Sie nicht allein.“
„Ich will mich nicht ausruhen. Ich bin nicht müde. Sagen Sie einfach, was Sie von mir wollen.“
Wieder bemerkte ich die Spuren von tiefer Trauer, die sich in sein Gesicht gegraben hatten. Es war schmal, mit einem markanten Kinn und einer langen Nase. Er sah auf eine herbe Art gut aus und man merkte ihm jeden Zoll den Stadtmenschen an. Elinor hätte ihn interessant gefunden …
Ich stand auf, um mich abzulenken und schenkte mir ein Glas Wasser ein, stellte auch eines für Holden auf den Tisch.
Er nahm einen Schluck. „Ich bin Anwalt, arbeite in der Kanzlei meines Vaters und seiner Partner in Mayfair.“
Ich nickte. Natürlich, das stand auf seiner Visitenkarte.
„Seit sechs Monaten bin ich beurlaubt. Ich habe beschlossen, Nachforschungen anzustellen.“
„Worüber?“
Seine Miene verfinsterte sich. „Am 14. November im vorigen Jahr wurde meine Schwester Cynthia im Highgate Wood in London gefunden. Erwürgt. Der Mörder hat sie mitten auf dem Sportplatz abgelegt. Nackt, bedeckt mit einem weißen Tuch, mit ausgebreiteten Armen …“ Seine Stimme verlor sich. Er musste nicht weitersprechen. Ich wusste, was kam.
Er griff in die Brusttasche seines Sakkos, zog ein Foto heraus, reichte es mir. Ich wollte das nicht sehen.
„Das war Cynthia“, sagte er mit rauer Stimme.
Das Bild war ziemlich zerknittert, sah aus, als wäre es bereits oft zur Hand genommen worden. Es zeigte zu meiner Erleichterung keine Tote, sondern ein Mädchen mit langem schwarzem Haar und strahlend blauen Augen. Es lachte unbeschwert in die Kamera. Der Anblick traf mich umso mehr. Noch ein Leben, das grausam zerstört worden war.
„Auf ihrer Brust lag eine Schmetterlingsbrosche.“
Die Brosche.
Ich fuhr mit der Hand in die Tasche meiner Jacke, holte das Schmuckstück heraus, das auf Elinors Brust gelegen hatte. Holden sah mich erstaunt an. „Sie haben sie einfach mitgenommen? Sie hätten sie der Polizei geben sollen.“
„Ich weiß. Ich … ich habe es vergessen. Es war so … keine Ahnung. Ich wollte einfach nicht…“ Ich atmete tief durch. „Wahrscheinlich wollte ich einfach nicht, dass alles wieder von vorne beginnt.“
Читать дальше