„Hi April! Willst du mich nicht hereinlassen? Es ist saukalt draußen und das Ding hier ist schwer!“ Elinor seufzte dramatisch und ich atmete erleichtert aus. Sie schob sich durch die Tür und brachte den Duft von Zimt und Schokolade mit einem Hauch von Curry mit. Sie ächzte theatralisch und stellte einen Korb von monströsen Ausmaßen auf den Tisch.
Ich stakste mit steifen Schritten von der Tür weg. In der Hand hielt ich immer noch die Karte dieses Mr. Holden. Ich legte sie unauffällig auf die Anrichte.
Elinor war damit beschäftigt, den Inhalt des Korbs auszubreiten. „Ich hab Salat, Curry mit Huhn und Reis und Chocolate Fudge Cake für meine arme kranke Freundin mitgebracht.“
Ich musste angesichts der Mengen lachen und mit einem Mal erfüllte mich Wärme. Wie hatte ich nur daran denken können, wegzugehen und Elinor zu verlassen? „Ich kann das niemals alles essen, ich hoffe, du leistest mir dabei Gesellschaft.“
Elinor grinste. „Das war der Plan.“ Sie zauberte eine Flasche Chardonnay hervor. „Und die passt genau zu unserem Mädelsabend. Fehlt nur noch ein Liebesfilm – ach je, du hast ja kein Fernsehgerät. Egal. Wir kriegen das schon hin. Lesen wir uns eben einige von deinen altmodischen Gedichten vor.“
Sie deckte in Windeseile den Tisch. Ich setzte mich auf einen Stuhl und ließ sie gewähren. Als einsame Kriegerin gegen die Dunkelheit bekam ich selten Gelegenheit, mich verwöhnen zu lassen.
Das Curry schmeckte wie erwartet köstlich und weckte trotz des gerade überstandenen Schreckens meinen Appetit. Zu meinem Leidwesen schaffte ich aber nur mehr eine kleine Portion Kuchen.
Während der Mahlzeit drehte sich unser Gespräch um Belangloses. Um die Schwierigkeiten Sarahs in der Schule, um Elinors Exmann und seine neue Freundin und um ihre eigenen Pläne für das Wochenende. Sarah würde bei Tom übernachten und sie hatte sozusagen sturmfrei. „Ich würde gerne wieder mal nach Glasgow fahren“, meinte sie. „Ein wenig bummeln gehen, vielleicht ins Kino. Hättest du Lust?“
Ich zuckte mit den Schultern. „Nicht wirklich. Ich fühle mich immer noch ein wenig wackelig.“
„Ach komm! Ein Tapetenwechsel würde dir guttun. Wir könnten auch tanzen gehen.“
Dazu war ich im Moment überhaupt nicht in der Stimmung, wollte Elinor aber nicht vor den Kopf stoßen. „Eher ein andermal …“
Sie zog eine Schnute. „Ich sehe schon, du willst dieses Wochenende lieber in deinen vier Wänden verschimmeln, zwischen den alten Schmökern und den komischen Gedichten von – ach, ich weiß gar nicht, wie die alle heißen.“
„Gibt es eigentlich etwas Neues über deine romantische Bekanntschaft?“ Mein Herz flatterte leicht, aber ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen.
„Meinst du butterfly0406?“
„Wie bitte?“ Ich starrte sie verständnislos an.
„Na so nennt er sich. Butterfly0406.“
Mir wurde heiß. Schmetterling. 0406. 6. April? Das war mein Geburtstag. Ein Zufall?
Elinor knuffte mich leicht in die Seite. „Erde an April? Du guckst schon wieder so komisch. Brich mir bloß nicht wieder zusammen! Mir ist das mit deinem Geburtstag auch aufgefallen, aber ich hab vergessen, ihn danach zu fragen. Muss ich unbedingt noch tun. Vielleicht ist es ja auch seiner? Wär doch lustig, oder?“
Ich schüttelte den Kopf, meine Gedanken rasten, ließen sich nicht festhalten.
Das Gedicht von John Grace. Eines meiner Lieblingsgedichte. Früher, in einem anderen Leben. Ich spürte, wie ein unsichtbares Netz mich zu umschließen begann, etwas Gigantisches, das mich in seine klebrige Umarmung ziehen würde.
„April?“ Elinors Hände, die vor meinem Gesicht fuchtelten, holten mich in die Wirklichkeit zurück. Sie nahm mich bei den Schultern, ihr Blick bohrte sich in meinen. „Meine Liebe, ich glaube, du hast wirklich ein ernsthaftes Problem. Denkst du, ich merke nicht, was mit dir los ist? Du trägst irgendeine Scheißgeschichte mit dir rum und glaubst, du musst sie mit dir alleine ausmachen. Falls du das noch nicht weißt – ich bin deine einzige und beste Freundin! Vielleicht wäre es gut, mal alles rauszulassen?“
Ich sah die Besorgnis in ihren Augen und musste schlucken. „Es – es geht nicht. Tut mir leid, aber das ist alles – ziemlich kompliziert …“
Elinor schüttelte den Kopf. „Es hilft wirklich manchmal, einfach drüber zu reden. Auch wenn ich nichts sonst für dich tun könnte, ich würde dir zuhören.“
„Das … das ist lieb von dir. Aber ich kann nicht.“
Sie rückte ein wenig von mir ab und ich spürte ihre Enttäuschung. Ich nahm ihre Hand. „Du bist wirklich meine beste Freundin. Aber glaub mir, es gibt Dinge, über die kann man nicht sprechen, die sollte man einfach nur vergessen. Genau das habe ich getan. Und um nichts in der Welt möchte ich die Erinnerung daran zurückhaben.“
„Wie du meinst.“ Elinor war immer noch verstimmt. „Und das ist wohl auch der Grund, warum du dich einigeln und nicht nach Glasgow mitkommen willst? Aber ist auch egal. Fahre ich eben alleine.“
05. Glasgow, 15. November 2013
The lost breeze kissed her bright blue eye,The bee kissed and went singing by,A sunbeam found a passage there,A gold chain round her neck so fair;As secret as the wild bee’s songShe lay there all the summer long.
(John Clare 1793 – 1864, Secret Love)
Er wartete, sah dabei immer wieder unauffällig auf seine Armbanduhr. Halb zehn. Er war eine halbe Stunde zu früh dran und hatte deshalb noch genügend Auswahl an freien Plätzen gehabt, saß jetzt im Halbdunkel in der Ecke mit freiem Blick zur Eingangstür. Obwohl er durstig war, versagte er es sich, ein Getränk an der Bar zu holen. Niemand sollte sich später an ihn erinnern.
Das One up füllte sich langsam. Einige Paare saßen an den Tischen, auch Männer in Anzügen – Geschäftsleute oder Bankbedienstete – schon sichtlich angeheitert, die ihr Feierabendbier ausdehnten, um gleich das Wochenende entspannt zu beginnen.
Die Eingangstür öffnete sich wieder und spuckte eine weitere Gruppe herein. Ein Frauenquartett, offensichtlich nach einem längeren Einkaufsbummel noch unterwegs. Sie schleppten Unmengen von Plastiktüten mit sich. Er verzog angewidert das Gesicht. Oberflächliche Tussen, die nichts anderes als den neuesten modischen Firlefanz im Kopf hatten. Mit blondierten Haaren, falschen Wimpern und Nägeln, in hochhackigen Pumps und engen Röcken.
Er wandte den Blick von den schnatternden Frauen wieder zur Eingangstür. Jeder, der das Lokal betrat, musste erst über die steile Treppe hochgehen, die beinahe wie ein Nadelöhr wirkte, bevor er diesen Ort des lasterhaften Vergnügens aufsuchen konnte. Mehr denn je fühlte er sich wie ein Fremdkörper.
Noch einmal sah er auf die Uhr. Hoffentlich erschien sie zum richtigen Zeitpunkt. Unpünktlichkeit war eine hässliche Untugend. Es überraschte ihn ein wenig, dass sie so plötzlich ein Treffen vorschlug, vorher hatte sie sich ziemlich zurückhaltend gegeben. Was ihn natürlich noch anstachelte, sich um sie zu bemühen. Aber auf Dauer konnte wohl keine seinen verführerischen Einflüsterungen widerstehen – Gott verzeihe ihm dieses widerwärtige Spiel! Es lag daran, dass sie hungrig waren. Gierig nach Sünde und verbotenen Vergnügungen. Nun – er würde ihnen allen die Augen öffnen!
Auch dieser. Er hatte auf dem Foto, das sie ihm schickte, sofort gesehen, dass sie eine von ihnen war.
Ja, ganz gewiss! Er erkannte solche wie sie auf Anhieb. Die blauen Augen mit diesem frechen Ausdruck, Blicke, die ständig die Umgebung absuchten, das dunkle Haar, das sie offen trugen und es immer wieder mit einer bewusst einstudierten Geste zurückstrichen, die Finger, die damit spielten. So kokett, so gefallsüchtig. Der Gang, wenn sie durch die Straßen liefen, mit wiegenden Hüften und das perlende, helle Lachen. Er würde dafür sorgen, dass sie lernten, sich zu benehmen.
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