Ich war ihr letztes Pflegekind gewesen und am längsten geblieben, beinahe neun Jahre, bis kurz vor meiner Volljährigkeit. Sie hatten mich schließlich adoptiert und ich trug von da an den Namen Gallagher. Mir war es nur Recht, ein weiteres Stück meiner Vergangenheit wurde dadurch ausgelöscht. Durch Vermittlung von Onkel Robert bekam ich eine Anstellung als Zimmermädchen im Argyll Guest House in Glasgow. Mein erster Job von vielen.
Onkel Robert starb kurz nach meinem Weggang an einem Herzinfarkt. Tante Emily war vor zwei Jahren eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht. Mangels weiterer Verwandtschaft vermachte sie mir das Häuschen und eine kleine Summe Erspartes und ich nahm das Erbe an, froh, endlich nach all den unsteten Jahren eine beständige Unterkunft zu haben.
Ich stellte mich unter die Dusche, ließ das heiße Wasser auf meinen Körper prasseln.
Danach zog ich die bequemste Jogginghose und mein Lieblings-Sweatshirt an und ging zurück in die Küche. Die dunklen Eichenmöbel wiesen mittlerweile starke Gebrauchsspuren auf, ich fand sie aber nach wie vor gemütlich. Der Großteil an Möbeln und Geschirr war aus dem Nachlass von Tante Emily, auch der Wasserkessel aus Edelstahl, den ich nun auf den Herd stellte, um mir eine Kanne Tee aufzubrühen. In einer Schublade entdeckte ich ein Säckchen mit Toffees, die mir Elinor irgendwann einmal geschenkt haben musste.
Ich ging zum Küchenfenster und schob den blau-weiß-karierten Vorhang zur Seite. Tante Emily hatte ihn selbst genäht und am unteren Rand mit einer Reihe Veilchen bestickt. Das diffuse Dämmerlicht draußen nahm mir jede Lust, das Haus zu verlassen.
Ich vertiefte mich in The Moonstone von Wilkie Collins. Das Buch hatte ich zuletzt während meiner Zeit in London gelesen. Der altmodische Krimi beruhigte meine Nerven und ich fragte mich wieder einmal, wie oft ich noch Opfer meiner Hirngespinste wurde.
Das Schrillen der Türglocke holte mich aus dem Tagebuch von Ezra Jennings zurück in die Wirklichkeit. Ich sah auf die Uhr. Halb vier. Hatte Elinor beschlossen, früher zuzusperren? Ehrlich gesagt, wäre es mir lieber gewesen, noch ein wenig Ruhe zu haben. Ich mochte meine Freundin sehr, aber sie konnte ihre Neugier nie lange bezähmen und ich musste auf unangenehme Fragen gefasst sein. Natürlich ahnte sie, dass es für meine Migräneattacke eine tiefere Ursache gab, noch dazu, wo sie so plötzlich beim Anblick der Brosche aufgetreten war. Ich verwünschte meine eigene Schwäche, die mich die Beherrschung verlieren hatte lassen.
Ich hatte Elinor nie etwas über meine Vergangenheit erzählt – auch nicht davon, was ich noch wusste.
Es läutete wieder und ich stand auf. Ignorieren konnte ich sie auf keinen Fall.
Ich öffnete die Tür. „Hi, du bist schon …“ Überrascht verstummte ich. Es war gar nicht Elinor. Ein Fremder stand vor mir.
„Miss April Gallagher? Oder vielmehr McPherson? April McPherson?“
Eine Gänsehaut überlief mich und die Härchen auf meinen Armen richteten sich selbst unter dem dicken Sweatshirt auf.
„Tut mir leid“, sagte ich automatisch. „Da sind Sie hier falsch.“
Er sah mich mit ausdrucksloser Miene an. Seine Augen hatten eine undefinierbare Farbe, eine Mischung aus grau, grün und blau.
„Tut mir leid. Ich wollte Sie nicht erschrecken. Ich weiß, dass Sie jetzt den Namen Gallagher tragen.“ Seine Stimme klang tief und sehr kultiviert. Londoner Upperclass vermutlich.
„Was wollen Sie? Wer sind Sie überhaupt? Falls Sie ein Reporter sind – ich kann Ihnen nichts sagen.“ Ich bemühte mich um einen harschen Ton, versuchte, das Zittern, das mich schlagartig überfiel, zu unterdrücken. Der Kerl war mindestens einen Kopf größer als ich, aber ich war gut darin geworden, mich selbst zu verteidigen. Zur Not konnte ich ihm das Knie in den Bauch rammen und …
„Verzeihen Sie.“ Er neigte den Kopf auf eine Weise, die zu seinem distinguierten Äußeren passte. Ich vergaß meine Verteidigungsmaßnahmen und betrachtete ihn genauer. Sein Alter war schwierig zu schätzen, er mochte vielleicht Anfang Dreißig sein, wirkte aber aufgrund seines Auftretens älter. Er trug einen schwarzen Kaschmirmantel, der nicht zugeknöpft war und darunter Anzug und Krawatte, alles im Wert etwa meines Jahresgehalts. Ich kannte mich mit teurer Kleidung aus, seit ich als Zimmermädchen im Park Lane Hotel in Mayfair gearbeitet hatte.
„Mein Name ist Benedict Holden. Ich bräuchte Ihre Hilfe bei einem heiklen Thema. Es geht um die Umstände des Todes …“
Das Zittern verstärkte sich und mir wurde schwindlig. „Mir egal. Ich will nicht mit Ihnen sprechen. Lassen Sie mich einfach in Ruhe.“ Ich wollte die Tür schließen, doch er stellte blitzschnell den Fuß in den Spalt. Sein Schuh war blank poliert.
„… Ihrer Mutter. Ich komme von Holden, Carmichael & Struthers“, sagte er, als hätte ich ihn nicht unterbrochen.
Ich hielt mich am Türrahmen fest. Hinter meinen Schläfen begann es zu pochen. „Verschwinden Sie oder ich rufe die Polizei.“ Das diffuse Gefühl von Angst, das mich bei der Nennung meines früheren Namens ergriffen hatte, wurde zu wilder Panik. „Gehen Sie, bitte.“ Es hörte sich viel zu flehentlich an.
Zu meiner Verblüffung trat er einen Schritt zurück. Ein bedauerndes Lächeln huschte über sein Gesicht. „Ich habe wohl den falschen Zeitpunkt erwischt, tut mir wirklich leid.“
Hau ab. Lass mich in Ruhe.
Ich hatte das bestimmt nicht laut gesagt, auch wenn es in mir schrie. Er griff in die Brusttasche seines Sakkos und gab mir eine Karte. „Vielleicht überlegen Sie es sich noch einmal. Es könnte sein, dass der Mörder Ihrer Mutter wieder zugeschlagen hat.“
Damit drehte er sich um und ging.
Ich warf die Tür zu, lehnte mich dagegen, konnte mit einem Mal keinen Schritt tun, so sehr zitterten meine Knie. Ich starrte auf die Karte in der Hand, die Schrift verschwamm vor meinen Augen.
Nein, das konnte nicht sein. Das war nur einer dieser sensationslüsternen Journalisten. Irgendjemand wühlte wieder einmal in der Vergangenheit herum, auf der Suche nach Grausigem, Rätselhaftem, um einem gierigen Publikum Unterhaltung zu bieten. Ich schloss die Augen, sah das Blitzlichtgewitter wieder vor mir, das mich unbarmherzig blendete, sodass ich keinen Schritt mehr tun konnte. Hörte die aufgeregten Stimmen, die bohrenden Fragen, die ich nicht beantworten konnte, weil mein Gedächtnis nichts als ein schwarzes Loch war. Spürte die unzähligen Körper, die sich an mich drängen wollten, mir viel zu nahekamen. Der Polizist, der mich mehr schlecht als recht vor der Meute abschirmte, ein Spießrutenlauf zu dem dunklen Wagen auf der anderen Straßenseite, der mich von Portree wegbringen sollte. Für immer.
Wie lange ich da stand, an die Tür gelehnt, in mir haltloses Zittern, hätte ich nicht sagen können. Es war, als würde über mir eine dunkle Wolke hängen, als sei der Abgrund, an den ich längst gewöhnt war, nicht mehr genug.
Das Gedicht. Die Brosche. Und jetzt dieser Kerl, der offensichtlich über mich Bescheid wusste.
Mein erster Impuls war, meine Sachen zu packen und einfach wegzulaufen, wie ich es so oft schon getan hatte. Aber eigentlich wollte ich das nicht mehr. Ich hatte eine Heimat gefunden, besaß ein Haus. Ich hatte endlich eine Freundin.
Das neuerliche Schrillen der Türglocke fuhr mir durch Mark und Bein. Ich hielt mich wieder am Türrahmen fest, um das Zittern unter Kontrolle zu bekommen und atmete ein paar Mal tief ein und aus. Mein Herz pochte so heftig, dass ich glaubte, mein Brustkorb müsste zerspringen. War das wieder dieser Fremde?
Unsinn. Er hatte gesagt, ich solle ihn anrufen. Was ich natürlich nicht tun würde.
Ich fasste mir ein Herz und öffnete die Tür einen Spalt weit. Nebel wallte in weißen Schwaden, schluckte das Licht der Straßenlaternen.
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