Ich musste wieder lachen, obwohl das mulmige Gefühl nicht verschwand, als ich die vertrauten Worte noch einmal hörte. Elinor war nicht nur eine ausgezeichnete Bäckerin, sie hatte auch eine überbordende Fantasie. Oft genug zu ihrem Pech, denn sie forderte Enttäuschungen geradezu heraus. Aber vielleicht hatte sie diesmal recht und der Kerl war wirklich nur ein romantischer Spinner. Sie konnte ja nicht wissen, dass diese Gedichtzeilen für einen winzigen Moment eine Tür zu einem Bereich meiner Vergangenheit geöffnet hatten, den ich für immer im Dunklen lassen wollte.
***
Ich schluckte noch zwei Tabletten, bevor ich in den Laden ging, nur um sicher zu gehen, dass mich keine weitere dieser heimtückischen Kopfschmerzattacken außer Gefecht setzte. Sarah hatte die ganze Zeit im Bad verbracht und verließ die Wohnung mit einem flüchtig hingeworfenen Gruß wie immer um acht, um zur Schule zu gehen. Ich half Elinor beim Aufräumen und um halb neun öffneten wir das Café.
Elinor hatte mir erzählt, dass gestern Abend noch eine Kiste mit Büchern aus dem Nachlass der alten Mrs. Tennant gebracht worden war und ich war begierig, sie zu durchforsten. Mrs. Tennant war eine gute Kundin gewesen, die alte Kriminalromane sammelte und ich konnte sicher sein, einige für mich interessante Exemplare zu finden.
Ich ging in den kleinen Lagerraum im rückwärtigen Bereich des Erdgeschosses und knipste die Lampe an. Sofort wurde der fensterlose, mit Regalen vollgestellte Raum in trüb gelbliches Licht getaucht. In dieser wenig ansprechenden Umgebung vertiefte ich mich in meine Arbeit. Es waren etwa hundertfünfzig Bücher, ein Bruchteil von Mrs. Tennants Schätzen. Hauptsächlich Romane von Agatha Christie, darunter sogar eine Erstausgabe von The Murder in the Vicarage aus dem Jahr 1930. Ein paar von Wilkie Collins waren dabei und ein ziemlich zerlesener Sherlock-Holmes-Band. Die Agatha Christies würde ich auf jeden Fall in den Laden stellen, sie waren bei den Touristen immer begehrt.
Elinor erwischte mich beim Schmökern, als sie den Kopf mit einem verschwörerischen Grinsen und einem Blick auf die Uhr an der Wand durch die Tür streckte. Es war fünf Minuten vor elf und ich verstand.
Ich erhob mich, klopfte meine Jeans ab, ging in die Toilette, um mir die Hände zu waschen und band eine der weißen Schürzen um, die an einem Haken neben der Eingangstür zum Lagerraum hingen.
Elinor verschwand in der kleinen Küche des Ladens. Hier bereitete sie die Snacks und Suppen zu, während sie in der größeren, besser ausgestatteten Küche in ihrer Wohnung Kuchen und Kekse fabrizierte.
Pünktlich um elf Uhr klingelte die Glocke der Ladentür und Mr. Hunter betrat das Café. „Hallo Gerald“. Ich lächelte ihn an.
„Guten Morgen, April.“ Sein Blick schweifte suchend durch den Raum.
Wie immer ergriff mich eine leise Ahnung von Mitleid.
„Ist Elinor nicht da?“ Seine hellen blauen Augen – Elinor bezeichnete sie gerne als babyblau – bekamen einen leidenden Ausdruck.
„Ich fürchte, sie hat keine Zeit.“ Ich hoffte, mein Tonfall klang bedauernd genug und warf einen kurzen Blick in Richtung Küche. „Shortbread“, sagte ich aufs Geratewohl. „Sie knetet gerade den Teig und ist komplett voller Mehl. Sorry.“
Er nickte resigniert, griff nach der Zeitung und setzte sich an den hintersten Tisch in der Ecke. Dort saß er immer, in der meist vergeblichen Hoffnung, einen Blick auf Elinor zu erhaschen oder sie womöglich sogar zu sprechen. Er tat mir manchmal wirklich leid, obwohl ich, wie schon erwähnt, mit Männern so meine Probleme hatte.
„Ich könnte Ihnen heute die Zitronentarte empfehlen. Oder den Brombeerkuchen. Beides ganz frisch.“
Er räusperte sich. „Den Brombeerkuchen bitte. Und Tee. Wie üblich.“ Er stellte die mitgebrachte Papiertasche sorgfältig auf den freien Stuhl neben sich und vertiefte sich in seine Lektüre. Immer wieder warf er verstohlene Blicke in Richtung Küche. Ich hörte, wie Elinor darin rumorte, wie um zu betonen, wie beschäftigt sie war. Gerald hätte nie gewagt, die Küche zu betreten, der arme Kerl. Er blieb in der Ecke sitzen, trank Tee, aß den Kuchen, pickte jeden einzelnen Krümel auf. Ein farbloser Mittvierziger in grauer Strickjacke, das glatte, hellbraune Haar sorgfältig gescheitelt. Gerald war Besitzer des Oban Guest House, ein Bed & Breakfast in der Albert Road und er kam jeden Vormittag zur gleichen Zeit. Man konnte die Uhr nach ihm richten. Er war nett. Nicht mehr und nicht weniger. Er würde niemals eine Chance bei Elinor haben, aber er begriff es nicht.
Pünktlich um halb zwölf stand er auf und bezahlte. Diesmal ging er aber nicht gleich, sondern blieb stehen, sah mich flehend an. Aus der Papiertüte – ich hatte mich schon gefragt, wozu er die brauchte – holte er ein Päckchen, eingewickelt in cremefarbenes Papier, das mit rosafarbenen Röschen bedruckt war. Eine hellrosa Schleife zierte das Präsent. Ich hielt unwillkürlich den Atem an. Er tat also den nächsten Schritt. Ein Geschenk.
Er räusperte sich. „Würden – würden Sie das Elinor von mir geben? Ich hätte es ihr gerne selbst … aber sie ist ja leider so beschäftigt… gewissermaßen unabkömmlich … was ich durchaus verstehe …“ Er verstummte abrupt, drückte es mir in die Hand und verschwand so plötzlich, dass ich nicht einmal mehr einen Abschiedsgruß anbringen konnte.
Ich starrte das Ding an. Natürlich musste ich es Elinor geben. Sie würde es hassen, was immer es auch sein mochte, davon war ich überzeugt. Ich legte es auf die Anrichte hinter der Theke und vergaß es.
Der Tag verlief ruhig. Am Nachmittag kamen ein paar Besucher zum Tee. Mrs. Cooper mit ihrer Tochter, drei Arbeiter, die auch noch ein Bier tranken, ein verspätetes Touristenpärchen, das einen Reiseführer und ein Exemplar der Scottish Folk Tales kaufte.
Ich begann, die Bücher aus Mrs. Tennants Kiste zu katalogisieren und in die Regale zu stellen, während Elinor bediente.
Wir hatten das Café gemeinsam gestaltet. Fotos aus Obans Vergangenheit und Nachdrucke von Gemälden von William Turner zierten die Wände, die Möbel hatten wir auf Flohmärkten besorgt, ein Sammelsurium von Stilen, wobei wir darauf achteten, nur dunkle Möbel zu nehmen. Es gab im Gastronomiebereich sechs Tische und im Buchladenbereich ein weiteres Tischchen mit dazugehörigen Stühlen und eine gemütliche, schon ziemlich abgewetzte Ledercouch. Die beiden Bereiche trennte ein mit Büchern vollgestellter Raumteiler, sodass man von zwei Seiten Zugriff auf die Lektüre hatte. Ein offener Durchgang führte vom Café in den Ladenteil und über allem schwebte eine Duftmischung von Tee, Kaffee, frischem Gebäck oder auch würziger Suppe und alten Büchern. Ich mochte meinen Arbeitsplatz, er war gemütlich und überschaubar und oft verbrachte ich Stunden nach Ladenschluss auf der Ledercouch, in irgendeinen Schmöker vertieft, wenn mir vor dem Heimweg und der Einsamkeit zu Hause graute.
„Kommst du auf einen Tee mit hoch? Ich hab auch noch einen Rest Linsensuppe.“ Elinor blieb im Durchgang stehen. Sie hielt Geralds Päckchen in der Hand. „Ist das von ihm?“
Ich nickte. „Sorry, hab vergessen, es dir zu geben.“
Elinor lächelte spitzbübisch. „Er geht also zu Plan B über, der arme Kerl.“ Sie kicherte und drehte sich um. „Weißt du was? Wir streichen den Tee und gönnen uns ein Gläschen Wein. Dann öffnen wir feierlich das Liebespräsent.“
Wenig später saßen wir in ihrer Küche. Die altmodischen, weiß lackierten Möbel im Landhausstil strahlten urige Gemütlichkeit aus, Lampenschirm und Vorhänge aus rotweißem Karo verstärkten den rustikalen Eindruck noch. Besonders stolz war Elinor auf die alten Kuchenformen aus Kupfer, die sie von Zeit zu Zeit polierte. Sie standen in einem eigenen Regal über der Anrichte und verbreiteten vornehmen Glanz.
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