Sünde.
Er selbst bemühte sich, in Reinheit zu leben. Aber auch ihn überfielen manchmal Gedanken, die ihn von seiner wahren Bestimmung ablenkten. Er seufzte und schlug sich auf die Brust. Mea culpa, mea culpa .
Nicht jetzt, nicht in diesem Moment. Er schloss die Augen, verharrte still, genoss die angenehme Leere in ihm. So war es immer, wenn er dem Willen des Herrn gefolgt war. Der Ruf, der ihn dazu zwang, die Seelen der Unreinen zu befreien, würde wiederkommen. So lange, bis er endlich sie gefunden hatte. Sein Gegenstück, seine Gefährtin, die ihn verstehen und unterstützen würde im Kampf gegen das Böse. Die er verloren hatte durch die harte Fügung des Schicksals.
Er fröstelte. Kälte drang durch seine Kleidung. Langsam erhob er sich. Es gab nur noch eines zu tun. Er musste Cynthia sein Geschenk geben, sein Wahrzeichen, damit die Welt erkannte, warum sie sterben musste. Seine Hand fuhr in die Jackentasche, holte eine kleine Schachtel heraus. Er befingerte den Deckel. Es war mühsam mit den Handschuhen, es gelang ihm erst nach mehreren Versuchen, ihn abzunehmen. Der filigrane Silberdraht, zu Schmetterlingsflügeln geformt, schimmerte im Mondlicht. Die darin eingearbeiteten Granatsplitter wirkten wie hin gespritzte Blutstropfen.
Er legte das Schmuckstück behutsam zwischen die Brüste der Toten auf das weiße Tuch und schlug das Kreuzzeichen.
Möge deine Seele Frieden finden und frei von jeglicher Schuld dem Schöpfer entgegentreten. Gott verzeihe dir deine Sünden und schenke dir ewige Ruhe.
Ein leichtes Gefühl von Verlust und Trauer berührte ihn am Rand seines Bewusstseins, aber er unterdrückte es sofort. Es erinnerte ihn an eine Vergangenheit, die er vergessen musste.
Er erhob sich, trat einen Schritt zurück und begutachtete noch einmal sein Werk. Für einen Moment wünschte er, es aus der Luft betrachten zu können. Die vom Mondlicht beschienene Rasenfläche, in der Mitte die schöne tote Frau, die Arme weit ausgebreitet.
Nun, vielleicht gelang es ihm beim nächsten Mal. Es würde ein Weg zu finden sein, wenn es so bestimmt war. Er holte das Handy heraus und fotografierte sein Kunstwerk aus verschiedenen Blickwinkeln.
Mit einem leichten Gefühl des Bedauerns wandte er sich ab, hob die gefaltete Folie auf und ging auf das Café zu, das sich als dunkler Klotz gegen das Mondlicht abzeichnete. Er warf das Paket in einen der Müllkörbe, drehte sich noch einmal um. Der Leichnam schimmerte als heller Fleck in der Finsternis. Cynthia würde morgen früh gefunden werden, aber da war er schon wieder im Norden der Insel. Seine Aufgabe war damit zu Ende – für diesmal.
Mit raschen Schritten betrat er den Pfad, der zur Muswell Hill Road führte, wo er sein Auto geparkt hatte. Seine schwarz gekleidete Gestalt wurde vom Dunkel des Waldes verschluckt.
02. Oban, Schottland, 12. November 2013
An undefined, an awful dream,A dream of what had been before;A memory whose blighting beamWas flitting o’er me evermore.
Emily Bronte (1818 – 1848), A Dream
Ich hasse November.
Die Worte hallten im Takt meiner Schritte im Kopf, pulsierten als dumpfes Echo hinter der Stirn. Ich wiederholte sie wie ein Mantra. Ich. Hasse. November.
Die Tablette, die ich gegen den Migräneanfall gleich nach dem Aufwachen geschluckt hatte, begann endlich zu wirken und der stechende Schmerz verwandelte sich in ein Gefühl, als wäre mein Gehirn in Watte gepackt.
Mein Hals und meine Brust taten aber noch immer weh. Ich musste wieder im Traum geschrien haben und wie so oft war ich dankbar für die abgeschiedene Lage von Tante Emilys Häuschen, die nächsten Nachbarn außerhalb meiner Rufweite.
Ich blieb stehen, lauschte in die nebelverhüllte Welt um mich herum.
Stille.
In einer plötzlichen Anwandlung von Orientierungslosigkeit drehte ich mich um die eigene Achse, obwohl ich wusste, dass sich hinter mir der weiß lackierte Zaun und die Gartenpforte des Cottage befanden, das ich gerade verlassen hatte.
Ich hasse Nebel.
Ich wartete auf das altbekannte Ziehen zwischen den Schulterblättern und die Vorstellung, beobachtet zu werden. Langsam ging ich weiter, suchte mit meinem Blick den Dunst zu durchdringen, der wie eine schwere Decke über dem Hügel lag. Normalerweise liebe ich es, mich im Gewirr der Gässchen zu verlieren, die den Laurel Crescent bilden. Aus der Vogelperspektive sieht er aus wie ein Kreuz, das durchgeschüttelt wurde und dessen längere Enden sich an die Laurel Road klammern. Tante Emilys Cottage, das seit zwei Jahren mir gehörte, stand am nördlichen kürzeren Teil dieses Kreuzes gänzlich abgeschieden und war für Uneingeweihte schwierig zu finden. Genau das Richtige für mich.
An Novembertagen war ich jedoch immer froh, zur Kreuzmitte zu kommen und wenigstens noch ein paar Anzeichen mehr von Zivilisation zu sehen, auch wenn die Mietcottages seit dem Sommer schon leer standen. Im Haus der MacAllisters brannte wie immer um diese Zeit Licht und ich genoss den Anblick des tröstenden warmen Scheins.
Als ich das Haus hinter mich ließ, verschluckte mich wieder die weiße Unendlichkeit. Prompt kehrte das Gefühl wieder, beobachtet zu werden. Ich versuchte mit allen Kräften, die aufsteigende Panik zu unterdrücken.
Da ist niemand. Du bildest dir das nur ein.
Ich ging weiter, mit mechanischen Schritten, sah stur geradeaus, bemühte mich, die Büsche zu ignorieren, hinter denen jemand stecken konnte. Die leeren Häuser nicht zu beachten, in denen er womöglich auf mich wartete. Wenn er mir folgte, wusste er, wo er mir am besten auflauern konnte.
Unsinn. Er ist nicht da. Es ist vorbei. Schon lange.
Ich weiß, ich bin seltsam. Aber ich kann nichts dafür. Wem so etwas wie mir widerfahren ist, der hat jedes Recht, seltsam zu sein.
Meine Kindheit endete ein paar Monate nach meinem zehnten Geburtstag an einem Novemberwochenende. Das ist jetzt ziemlich genau siebzehn Jahre her. Ich stürzte in die Finsternis, und als ich am tiefsten Punkt ankam, war alles zu Ende und nichts würde mehr so werden wie früher. Ich hatte alles verloren. Meine Mutter, meine Unschuld und meinen Glauben an das Gute im Menschen.
Meine geschundene Seele wehrte sich, indem sie den Schleier des Vergessens über diese drei Tage legte, in denen ich die Hölle durchlebte. Trotz jeglicher Therapie änderte sich daran nichts. Irgendwann gab ich es auf und akzeptierte, dass ein Teil meiner Erinnerung fehlte. In Anbetracht eines Menschenlebens ist diese Zeitspanne von drei Tagen unerheblich. Doch tief in mir lauert ein furchtbares Wissen, das niemals ruht und das mich unablässig quält. Ich verdränge diese Tatsache mehr oder weniger erfolgreich. Der Lohn sind ständig wiederkehrende Albträume, Migräneattacken und Panikanfälle.
Besonders an Novembertagen wie diesem, wenn der Nebel meine Welt eroberte, sie in dichte, undurchdringliche Schwaden hüllte, die alles um mich herum erstickten, kratzte die eingeschlossene Erinnerung mit scharfen Nägeln in meinem Inneren, versuchte, mit Macht an die Oberfläche zu gelangen und schaffte es doch nicht. Dann wurde jeder Weg zur Tortur, zum Spießrutenlauf.
Ich bog in die Laurel Road ein, das Blut rauschte in meinen Ohren und mein Herzschlag dröhnte. Ich schwitzte, obwohl es so frostig war, dass der Atem weiße Wölkchen bildete. Jetzt kam der schlimmste Teil des Weges. Hier standen keine Häuser, es gab nur dichtes Buschwerk und mit Gras bedeckte Hügel. Unbebautes Niemandsland, das perfekte Verstecke bot. Linkerhand erhob sich der MacCaig’s Tower, das markanteste Wahrzeichen von Oban. Heute konnte ich die Umrisse des mächtigen Runds über mir nur erahnen. Die Straße lag wie ausgestorben vor mir.
Ich beschleunigte meine Schritte. Zwei verschwommene gelbe Lichter tauchten auf. Das erste Auto, das mir an diesem Morgen begegnete. Ich wich zur Seite, starrte auf den Wagen, der langsam an mir vorbeifuhr, hoffte, dass er nicht hielt und der Fahrer mich nicht ansprach. Das Fahrzeug verschwand um die nächste Biegung und ich blieb stehen, lauschte, bis sich das Motorengeräusch verlor und ich mir sicher war, dass er nicht gewendet hatte, um was auch immer zu tun.
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