Als ich ins Freie trat, wölbte sich über mir der sternenklare Himmel. Eine leichte Brise wehte und brachte den Geruch nach Wald und Erde mit. Ich atmete erleichtert auf, begann zu laufen. Die kalte Luft schnitt in meine Wangen, schmerzte in der Lunge, aber das machte mir nichts aus. Der Nebel war fort und hatte die Albträume mitgenommen.
Ich lief etwa eine Stunde und wandte mich zum Schluss in die Duncraggan Road. Von dort führte ein Pfad zum Tower. Eigentlich ist der MacCaig’s Tower kein Turm, wie der Name vermuten lässt. Es handelt sich um ein folly , eine architektonische Verrücktheit. Der Bankier John Stewart MacCaig hatte Ende des 19. Jahrhunderts auf einem Hügel über Oban ein Monument in Form des römischen Kolosseums errichten lassen. Angeblich, um die Arbeitslosigkeit in der Stadt zu bekämpfen. Der Bau blieb unvollendet, weil er starb und seine Erben kein Interesse mehr daran hatten. Nun thront also ein weithin sichtbarer offener Mauerring um den Hügel. Im Inneren befindet sich eine hübsche, gepflegte Parkanlage, die zum Verweilen und Ausruhen einlädt. Im Sommer eher unmöglich, weil der Tower ein markantes Wahrzeichen von Oban ist, das gerne von Touristen besucht wird.
Um diese Zeit herrschte allerdings tiefe Stille. Die Sterne verblassten bereits, obwohl es immer noch dunkel war.
Ich kletterte keuchend den Hügel hoch, blieb unter einem der Torbögen stehen, um Atem zu schöpfen. Durch die gegenüberliegende Fensterreihe blinkten die Lichter des Hafens. Etwas unterhalb entdeckte ich ein schwaches rotes Flackern in einer regelmäßigen Reihe. Ich dachte zuerst an einen Fackelzug wie zu Hogmanay, denn auch in Oban wird so der Jahreswechsel gefeiert. Aber natürlich nicht im November. Außerdem waren keine Menschen in der Nähe. In dieser absoluten Stille hätte ich sie hören müssen. Ich folgte dem asphaltierten Pfad, der quer durch die Anlage führt. Die Lichter gehörten eindeutig nicht zum Hafen, sie befanden sich im Inneren des Mauerrings.
Seltsam.
Ich steuerte darauf zu, verließ den Pfad und betrat den Rasen. Nach ein paar Schritten spürte ich die Kälte des nassen Grases durch meine Schuhsohlen dringen. Ich ging näher, magisch angezogen von den roten Lichtern, stellte fest, dass es in einem großen Kreis aufgestellte Grabkerzen waren. In der Mitte des Kreises leuchtete ein heller Fleck. Fremd und unheimlich sah das Ganze aus, es gehörte nicht hierher. Unschlüssig blieb ich stehen, aber meine Neugier siegte.
Ich ging noch näher, das flackernde Licht ließ jetzt Einzelheiten erkennen. Eine lebensgroße Puppe im Gras. Glaubte ich zumindest, alles andere wäre mir unmöglich erschienen. Die Kerzen standen in einem Abstand von etwa einem Meter darum herum. Ich betrat den Lichterkreis, in mir spürte ich ein merkwürdiges Kribbeln. Was sollte das nur bedeuten?
Wie magisch angezogen, ging ich Schritt für Schritt weiter, bis ich dicht vor der Puppe stand. Ich weigerte mich, zu glauben, was meine Augen da sahen.
Da lag eine Frau. Nackt, die Beine geschlossen, die Arme weit ausgebreitet. Kreuzförmige Schnitte hoben sich dunkel von der bleichen Haut ab, auf der Stirn, dem Kinn und der Brust. Wie ein unauslöschlicher Segen. Ihr Körper mit einem weißen Tuch bedeckt. Auf ihrer Brust glitzerte etwas Silbernes. Ich bückte mich, betrachtete das Ding. Es war ein Schmetterling mit weit ausgebreiteten Flügeln, in den winzige Bernsteinsplitter eingeflochten waren.
Merkwürdig, wie mein Gedächtnis diese Einzelheiten speicherte, ohne Gefühl, ohne Regung, außer diesem heißen Kribbeln in mir. Ich streckte die Hand aus, meine Finger berührten das kalte Metall. Ich hob das Schmuckstück auf, nahm es auf die Handfläche, betrachtete es kurz und steckte es in die Jackentasche. Erst dann sah ich in das Gesicht der Puppe – denn dafür hielt ich sie immer noch. Klare blaue Augen, erstarrt in schmerzlichem Erstaunen, langes dunkles Haar, ausgebreitet wie ein Fächer. Ich starrte und starrte. Erst jetzt erkannte ich sie.
Nein – das konnte nicht sein. Nicht …
Ein unmenschliches Heulen brach aus mir heraus, ein Schrei, der durch die anbrechende Dämmerung gellte, ohne Ende, wie auch? Mein Albtraum war zurückgekehrt, deutlicher denn je. Es war nicht vorbei und würde es niemals sein. Er war zurückgekommen, aus dem Abgrund der Hölle, um sein Werk fortzusetzen. Hier lag keine Puppe.
Elinor – es war Elinor! Und sie war tot!
***
„April? Kann ich Sie kurz sprechen?“
Ich blickte hoch, sah in das Gesicht von Chief Constable Joseph Wilkins. Ich kannte ihn, er trank manchmal nach Feierabend ein Bier in Elinors Café. Das jetzt wohl geschlossen werden musste. Ich sollte mich darum kümmern. Da war bestimmt noch Kuchen im Kühlraum, die ganzen Lebensmittel, ich musste ein Schild an die Tür hängen Wegen Todesfall geschlossen , ich musste … Das Zittern in mir hörte einfach nicht auf. Meine Zähne klapperten, obwohl mir jemand eine Decke um die Schultern gelegt hatte. Ich saß in einem Auto, durch die geöffnete Wagentür strömte die morgendliche Kälte. Ich wusste nicht, wie ich dorthin gelangt war.
„Es tut mir leid, April. Aber ich muss Ihnen einige Fragen stellen …“ CC Wilkins drückte mir einen Becher Tee in die Hand und ich klammerte mich dankbar daran.
Um mich herum herrschte rege Betriebsamkeit. Das Flackern von Blaulicht auf Polizeiautos, Uniformierte, der Notarztwagen, ein paar Anrainer, zusammengedrängt zu einem frierenden Grüppchen, das am Fuß des Hügels stand und neugierige Blicke auf das Folly warf. Es war abgesperrt worden, niemand durfte hinauf zu Elinor, die da wahrscheinlich immer noch im nassen Gras lag, nackt, den Blicken der Polizisten ausgesetzt. Vielleicht war auch die Spurensicherung schon gekommen. Ich glaubte, Männer in weißen Overalls gesehen zu haben.
Ich nippte an dem heißen Tee, verbrannte mir die Lippen, spürte den Schmerz kaum, weil mein Hals beim Schlucken so wehtat. CC Wilkins stand noch immer da, mit einem Ausdruck tiefen Bedauerns in seinem runden Gesicht. Ein gemütlicher, untersetzter Mann mit einer angenehmen Bassstimme.
„Sie waren also laufen?“, fragte er behutsam mit einem Blick auf meine Turnschuhe.
Ich nickte.
„So früh?“
„Ja.“ Ich musste mich räuspern. „Ich – ich konnte nicht mehr einschlafen. Albträume.“ Die Worte quälten sich durch meinen entzündeten Hals.
Er nickte wieder, als würde er mich verstehen. Natürlich konnte er das nicht, aber er schien sich zu bemühen.
„Wann haben Sie Elinor zum letzten Mal gesehen?“
Ich schloss die Augen. „Donnerstag am Abend. Sie … sie hat mich besucht. Ich war krank. Migräne“, erklärte ich auf seinen fragenden Blick. „Der Nebel – er tut mir nicht gut.“
„Dann waren Sie also am Freitag nicht im Laden?“
„Sie hat mir freigegeben. Weil ich krank war.“ Ein Klumpen bildete sich in meinem Magen, stieg in die Kehle hoch. Ich schluckte, hätte beinahe vor Schmerz aufgeschrien, aber ich blieb stumm. Keine Tränen. Jetzt nicht.
Seine hellen grauen Augen musterten mich aufmerksam. „Brauchen Sie Hilfe? Ich könnte Ihnen psychologische Betreuung …“
Mein vehementes Kopfschütteln unterbrach ihn. „Nein, vielen Dank.“ Es hilft nichts, gar nichts. Ich kenne das.
„Vielleicht ist es besser, wenn Sie sich ein wenig ausruhen. Haben Sie jemanden, den Sie anrufen können, der sich um Sie kümmern kann?“
Nein. Ich habe niemanden. Ich bin ganz allein. Ich habe meine einzige Freundin verloren.
„Ich komme zurecht, es geht schon“, flüsterte ich.
„Ich übernehme das“, hörte ich plötzlich eine tiefe Männerstimme. Der Chief Constable drehte sich um und ich sah einen Mann, der gemessenen Schrittes auf uns zukam. Im ersten Moment wusste ich nicht, wer er war, dann fiel es mir ein. Mr. Holden. Benedict Holden. Was hatte der hier zu suchen? Der Polizist musterte ihn scharf und ziemlich erstaunt. Auch mir musste die Überraschung ins Gesicht geschrieben sein, denn der großgewachsene Mann aus London lächelte flüchtig. Er reichte Wilkins seine Karte. Der zog die Brauen hoch. „Kennen Sie Miss Gallagher?“
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