gestand Nedeam.
»Es hat alles seinen Grund, Erster Schwertmann.« Marnalf betrachtete die
Regale, in denen die unterschiedlichsten Vorräte lagerten. »Seid so gut und
schließt die Tür. Und legt den Sperrbalken vor, wir wollen nicht gestört
werden.«
Nedeam sah den Grauen forschend an. Marnalf hatte sein Leben
eingesetzt, um den König des Pferdevolkes zu retten, und später hatte er auch
in Merdonan ohne Vorbehalte für die Menschen gekämpft. Es gab keinen
Grund, an seinem guten Wesen zu zweifeln, und doch beschlich den
Pferdelord ein unbehagliches Gefühl. Zögernd legte er den Sperrbalken in die
Halterungen.
»Schön, guter Herr Marnalf, ich habe Euren Wunsch erfüllt. Doch nun
erklärt mir, was dies alles zu bedeuten hat.«
Marnalf zog einen Schinken aus dem Regal, schnupperte daran und seufzte
anerkennend. »Wundervoll. Hervorragend gewürzt. Leiht mir mal Euer
Messer, Hoher Herr Nedeam. Seht es mir nach, aber ich kann diesem Duft
nicht widerstehen.«
Nedeam unterdrückte seinen Unmut, zog das kurze Messer aus dem Gürtel
und reichte es, den Griff voran, Marnalf hinüber. Kaum hatte der es gepackt,
machte er eine schnelle Bewegung mit der Hand, und Nedeam schrie
erschrocken auf und sprang instinktiv zurück. Blut floss aus einem tiefen
Schnitt, den das Graue Wesen ihm über die Handfläche gezogen hatte.
»Verflucht, was soll das?«, zischte Nedeam, und seine unverletzte Hand
legte sich um den Griff seines elfischen Schwertes. »Erklärt Euch, Marnalf!
Seid Ihr verrückt geworden?«
Marnalf sah ihn forschend an. »Ist der Schnitt tief? Blutet er stark?«
»Natürlich ist er tief und blutet«, knurrte Nedeam.
»Wirklich?« Marnalf lächelte sanft, aber in diesem Augenblick konnte
Nedeam darin nichts Beruhigendes sehen. »Zeigt es mir.«
»Wenn Ihr nicht rasch erklärt, was das zu bedeuten hat, dann werde ich
Euch meine Klinge zeigen, Herr Marnalf.«
»Ah, das heiße Blut der Menschen«, seufzte der Zauberer. »Und das der
Pferdemenschen war schon immer leicht zum Kochen zu bringen.« Er
streckte seine Hand aus. »Nun kommt schon, zeigt mir die Wunde.«
Nedeams Misstrauen war geweckt. Marnalf war der Letzte der guten
Grauen, alle anderen waren verschwunden oder an die Seite des Schwarzen
Lords getreten. War nun auch Marnalf den Mächten der Finsternis verfallen?
»Ich werde jetzt diese Tür öffnen, Marnalf. Ihr werdet Euch mir erklären, und
zwar im Beisein der anderen.«
Marnalf lächelte gelangweilt. »Meint Ihr denn, die anderen könnten Euch
schützen?«
Der Schlag, der nun folgte, traf Nedeam nicht ganz unvorbereitet. Das
Verhalten des Zauberers hatte ihn alarmiert, und er hatte auf ein Anzeichen
gewartet, dass Marnalf sich gegen ihn wenden würde. Aber die Fähigkeiten
des Zauberers waren größer als die Nedeams. Der Erste Schwertmann bekam
seine elfische Klinge nicht mehr frei; er wurde herumgewirbelt und von einer
unbarmherzigen Gewalt mit dem Rücken gegen die Wand neben der Tür
geschmettert. Der wuchtige Aufprall nahm ihm für einen Moment den Atem,
und er fühlte, dass seine Füße den Boden nicht berührten. Eine unsichtbare
Macht hielt den hilflosen Nedeam an der Wand. Er kannte diese Macht; es
war der Wuchtzauber der Grauen Wesen, mit dem sie Gegenstände bewegen
und sogar zerschmettern konnten.
»Nun, wie fühlt es sich an, Nedeam, Pferdemensch?« Marnalf hielt den
Ersten Schwertmann fest im Blick, während er ungerührt einen Streifen von
dem Schinken schnitt und in seinen Mund führte. »Keine Sorge, noch sind
alle Eure Knochen heil. Übrigens ist dies ein ganz hervorragender Schinken.
Es gibt wahrlich Dinge, die ich an Euch Menschen bewundere. Diese
Würzmischung ist einzigartig.«
»Verfluchte Bestie«, keuchte Nedeam. »Wann seid Ihr dem Wahnsinn
verfallen? Wer hat Euch in ein solches Monster verwandelt?«
Marnalf lächelte sanft. »Ihr täuscht Euch sehr.« Er machte eine
unmerkliche Bewegung mit der freien Hand, und Nedeam spürte, wie die
Kraft, die auf ihn wirkte, stärker wurde. Der Druck auf seine Brust begann
ihm die Luft abzuschnüren. Marnalf legte den Kopf schief und drehte sich ein
wenig vor Nedeam, ohne ihn dabei aus den Augen zu lassen. »Nun, was ist,
Nedeam, Pferdemensch? Wie sehe ich aus?«
»Ihr habt einen guten Schneider«, ächzte der Erste Schwertmann.
»Wahrhaftig, den habe ich.« Marnalf lachte leise. »Ihr scheint stark zu
sein, wenn Ihr noch immer scherzen könnt.«
Erneut verstärkte sich der Druck. Nedeam spannte seine Muskeln an und
versuchte, sich der Kraft zu entziehen, aber es war sinnlos. Solange das Graue
Wesen ihn sehen konnte, vermochte es seine Zauberkraft auch gegen ihn
einzusetzen. Das war die einzige offensichtliche Schwäche dieser
geheimnisvollen Kreaturen: Wenn sie das Ziel ihrer Magie nicht mit den
Augen fixieren konnten, waren sie machtlos.
Nedeam spürte das Hämmern seines Pulses. Er versuchte zu schreien, aber
er konnte bloß ein leises Krächzen ausstoßen. Nur seine Augen vermochte er
frei zu bewegen, und so huschte sein Blick umher, um einen Weg zu finden,
den verräterischen Grauen zu bezwingen. Es brannte nur eine einzelne
Brennsteinlampe im Vorraum des Magazins. Der Brennstein war sorgsam von
einem Schirm aus Klarstein abgedeckt, denn bei der Lagerung von Getreide
und anderen Gütern konnten staubfeine Partikel aufwirbeln und sich an einer
offenen Flamme entzünden. Der Brennstein war frisch aufgefüllt, und es
bestand keine Aussicht, dass die Lampe so bald erlosch. Dunkelheit würde
Nedeam dem Blick Marnalfs entziehen und ihm die Chance geben, sich zu
wehren. Aber hier würde sie nicht zu seinem Verbündeten werden.
Marnalf lehnte sich mit gelangweiltem Gesicht an eines der Regale.
»Warum wehrt Ihr Euch nicht, Nedeam? Seid Ihr zu feige?«
Der Druck wurde noch stärker und begann Nedeam die Sinne zu rauben.
Dann trat Marnalf näher. Sein Gesicht blickte drohend und schien ins
Bösartige verzerrt. »Niemand wird erfahren, wie Ihr gestorben seid, Nedeam,
Pferdemensch. Euer Herz hat versagt, so etwas kommt vor.« Marnalf lachte
kalt. »Niemand wird mich verdächtigen, denn ich bin ein Freund der
Menschen. Sicherlich wird man sehr um Euch trauern.« Marnalf leckte sich
über die Lippen. »Und da gibt es ein elfisches Wesen, das sich besonders
grämen wird. Nun, sie ist sehr ansehnlich, die Elfin Llarana, findet Ihr nicht?
Vielleicht sollte ich meine besonderen Fähigkeiten einsetzen, um mich mit ihr
zu paaren?«
Voller Zorn versuchte Nedeam zu schreien, aber es wurde nur ein leises
Krächzen daraus. Mit aller Kraft stemmte er sich gegen die Magie des Grauen
Wesens und glaubte tatsächlich zu spüren, wie die Macht schwächer wurde,
die gegen seinen Körper drückte.
Dann nickte Marnalf und trat zurück. »Nun weiß ich, was ich erfahren
musste.«
Unvermittelt erlosch die Macht, die Nedeam festhielt. Er hatte nicht einmal
die Kraft zu schreien, als er vornüberstürzte und schwer auf dem Boden
aufprallte. Es wäre Marnalf leichtgefallen, ihn zu töten, warum hatte der
Graue von seinem Vorhaben abgesehen?
Nedeam gelang es, sich auf die Seite zu wälzen, und starrte das Graue
Wesen hasserfüllt an. »Bringt es zu Ende, Marnalf«, keuchte er. »Denn wenn
ich erst wieder zu Kräften komme, werde ich nicht zögern, Euch zu
erschlagen.«
»Gesprochen wie ein wahrer Pferdelord.« Die Bösartigkeit in den Zügen
des Grauen Wesens war einem gütigen Lächeln gewichen. »Und glaubt mir,
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