„Herr, ich muss mit dir sprechen, es ist wichtig, es geht um Leben und Tod.“
Ariston wird bleich, sagt dann aber:
„Sprich, erzähle, was dich in so helle Aufregung versetzt.“
Was ich ihm erzähle, scheint ihn in Stein zu verwandeln. Die Familie des Antores war ihm wohl bekannt, auch er hat vom Verschwinden gehört und – das muss er zugeben – es hat auch ihn beunruhigt, denn er wusste sehr wohl, dass diese Familie niemals einfach abgereist wäre. Weil er aber dem Unheil nicht ins Gesicht sehen wollte, hat er dieses Ereignis einfach tief unten in seinem Bewusstsein vergraben und immer, wenn es an die Oberfläche kommen wollte, hat er eiligst an etwas anderes gedacht.
Aber was die Sache nun wirklich über alle Massen schrecklich macht, ist das dumme Verhalten seines Sohnes. Wie konnte er nur? In Frauengemächer einsteigen! Das ist ein Verbrechen, und das ist ihm nur allzu bekannt!
Ariston ist bald klar, dass die Situation für die ganze Familie verzweifelt ist, er ist wie zu einer Säule erstarrt und sein Gehirn scheint den Dienst zu verweigern. Ich stehe da und warte auf eine Antwort, auf Taten, auf irgendetwas.
Endlich löst sich seine Starre.
„Wo ist Niko,“ fragt er.
„Ich weiss nicht, ich bin ja erst nach Hause gekommen.“
Er ruft nach dem Thraker und verlangt, dass er Niko herbringt. Der aber ist nirgends zu finden. Meine Angst nimmt ungeheure Ausmasse an und ich brauche alle Kraft, um nicht in Panik zu verfallen. Ruhig bleiben, das ist jetzt das Wichtigste, nur mit klarem ruhigem Verstand lässt sich vielleicht noch ein Ausweg finden! Ariston ruft jetzt nach Ismene und schickt alle andern weg. Noch einmal erzähle ich, was passiert ist. Sie wird bleich, ist aber erstaunlich gefasst.
„Auf so etwas habe ich immer gewartet, nicht auf die Dummheit unseres Sohnes, aber auf ein Unglück, das Kritias auf uns nieder fallen lässt.“
Ariston meint nun:
„Was Nikodemos getan hat, ist unverzeihlich und wird schreckliche Folgen haben. Aber wir haben ja immer noch unseren Schutzherrn, Theramenes, vielleicht kann dieser uns helfen.“
„Nein,“ sagt Ismene, „dies ist eine Tat, die auch Theramenes auf das Schärfste verurteilen wird, hier kann auch er uns nicht helfen.“
In diesem Moment wird das Tor aufgestossen und ein atemloser Niko stürzt herein.
„Habt ihr gehört,“ ruft er aufgeregt, „die Familie des Antores ist verschwunden und nicht genug damit, Theramenes ist im Rathaus festgenommen und ins Gefängnis gebracht worden. Man behauptet, er sei zum Tode verurteilt, in Fesseln abgeführt und bereits hingerichtet worden.“
Erst jetzt fallen ihm unsere steinernen Mienen auf.
„Habt ihr das schon gehört? Ist das schon überall bekannt?“ fragt er etwas unsicher.
„Nikodemos, was hast du getan? Bist du in die Frauengemächer bei Kritias eingedrungen?“ fragt Ariston nun.
Er wird rot und sagt sofort:
„Nein, auf keinen Fall, das ist doch verboten!“
„Stimmt, es ist verboten, sehr sogar, aber du wurdest gesehen, wie du über die Mauer geklettert bist!“
Jetzt schaut Niko zu Boden.
„Die Tochter von Kritias, ich liebe sie und sie liebt mich, ich kann ohne sie nicht leben!“
Jetzt mische ich mich ein.
„Ja, das haben einige vor dir auch schon gesagt und sie sind alle verschwunden, die meisten samt ihren Familien. Möchtest du sie einmal in Laurion besuchen? Vielleicht sind ein paar davon noch am Leben, zum Beispiel der Sohn des Melanchos oder der des Antenor, die kennst du ja vom Gymnasium.“
Niko erstarrt.
„Es ist also wahr,“ flüstert er. „Was soll nun werden?“
Wie ein kleiner Junge fängt er an zu weinen.
Ich vergesse meine Stellung als Sklave, packe und schüttle ihn.
„Reiss dich zusammen, du hast deine ganze Familie in schreckliche Gefahr gebracht. Hör also auf zu heulen und hilf uns, damit wir uns retten können!“
Wie ein Häufchen Elend sinkt er zu Boden, aber immerhin hört er auf zu weinen.
„Aber was tun wir jetzt?“ fragt Ariston und ringt verzweifelt die Hände.
Ismene nimmt nun plötzlich das Zepter in die Hand und bestimmt ruhig, als sei dies eine ganz normale Entscheidung:
„Wir müssen weg und zwar schnell. Wir können nicht hoffen, dass die Dummheit unseres Sohnes Kritias nicht zu Ohren kommt, vielleicht weiss er es bereits und schickt schon seine Schergen aus. Zudem hast du gehört, Ariston, Theramenes ist tot, er kann uns also auch nicht mehr helfen. Wir verschwinden sofort!“
„Ja, du hast Recht, aber wohin? Wohin können wir fliehen, wo sind wir sicher?“ jammert Ariston.
Er ist völlig ratlos und weiss offensichtlich keinen Rat. Hilfesuchend schaut er zu mir.
„Panos, hilf uns, was sollen wir nur tun!“
Niko schlägt vor:
„Wir können in die Berge fliehen, da gibt es Hütten und Olivenhaine, da können wir uns verstecken.“
„Für eine kurze Zeit wäre dies ein guter Plan, aber nicht über längere Zeit,“ finde ich. „Wir würden sicher von einem Bauern gesehen, der dies auf dem Markt erzählt. Irgend jemand hört davon, zählt zwei und zwei zusammen und meldet dies dem Kritias. Wir wissen ja nicht, ob der nicht sogar einen Preis auf Nikos Kopf aussetzt! Aber wir könnten nach Theben fliehen, das haben vor uns schon viele getan, die sich die Gunst der Tyrannen verscherzt hatten und um ihr Leben fürchten mussten. Sogar Sklaven aus Laurion konnten ab und zu fliehen und suchten ihr Heil dann in Theben, denn die sind unabhängig, dort haben weder die Athener noch die Spartaner das Sagen.“
Alle überlegen angestrengt, so einfach ist eine Flucht nicht, denn wir wollen ja nicht den Schergen des Kritias in die Arme laufen, wir müssen immer einen Schritt voraus denken.
Jetzt hat Ariston seine gewohnte Ruhe wieder gefunden und sagt:
„Hört alle zu! Theben ist zu gefährlich, gerade weil immer wieder Verfolgte dorthin geflohen sind. Sicher wird Kritias einen Schlägertrupp in diese Richtung losschicken. Wir müssen nach Syrakus fliehen. Ich war ja dort, ich habe dort noch Freunde, die werden uns helfen, und der Arm des Kritias reicht nicht so weit. Wir gehen nach Piräus und suchen ein Schiff, das uns dorthin mitnimmt!“
„Piräus,“ meine ich, „Piräus ist zu gefährlich, dort wimmelt es von Soldaten, auch Leute des Kritias sind dort, und die Zehn Tyrannen von Piräus sind ebenso schlimm wie unsere Dreissig. Es wäre kaum möglich, ungesehen auf ein Schiff zu gelangen.“
„Dann muss es eben ein anderer Hafen sein. Wir fliehen nach Korinth, von dort legen immer wieder Schiffe nach Syrakus ab! Aber es ist schon Herbst. Die Seeleute fürchten die Winter-stürme, also müssen wir so rasch als möglich dort eintreffen, um noch einen Platz auf einem der letzten Schiffe zu ergattern. Von Athen nach Korinth führt eine gute Strasse, auf dieser sollten wir rasch vorwärts kommen.“
Alle denken über den Plan nach, dann findet Ismene:
„Das ist schon richtig, wir kommen schnell voran, aber die Reiter des Kritias auch und sogar noch schneller. Wir nehmen erst ein Stück der guten Strasse, müssen dann aber bald in die Hügel ausweichen. Dies ergibt zwar einen weiteren Weg, aber wir sind sicherer!“
„Ja,“ stimmt Ariston zu, „das ist ein guter Plan. Wir erzählen, dass wir das Heiligtum der Demeter in Eleusis besuchen und dort opfern wollen. Das glaubt uns jedermann, bald ist ja das grosse Opferfest. Der Thraker bleibt hier, er wäre nur ein Hindernis auf dem Weg. Alle andern kommen mit.“
Ismene erklärt nun:
„Ich habe immer wieder von verschwundenen Familien gehört und dem Frieden nicht getraut. Daher habe ich bereits Bündel für genau einen solchen Notfall gepackt. Eigentlich können wir sofort aufbrechen.“
Wir alle sind sprachlos. Ariston umarmt Ismene und sagt:
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