So suche ich auch jetzt wieder das Heil in der Flucht, und nach kurzer Zeit höre ich sein Keuchen hinter mir nicht mehr, er hat aufgegeben. Nun kämpfe ich mich durch das Gewühl bis zum Stand des Speusippos, der die besten Garne verkauft. Nirgends sonst finde ich nämlich Wolle und Garne mit so intensiven Farben. Hier muss ich mich etwas gedulden, denn ich bin nicht der Einzige, der seine Ware schätzt.
Plötzlich spüre ich, dass jemand seine Augen auf mich richtet. Ich drehe mich um und lasse meinen Blick über die bunte Menschenmenge schweifen. Tatsächlich, ein Stück weiter, neben dem Stand des Schuhmachers, steht ein Mann, der seine Augen auf mich gerichtet hält. Kaum schaue ich zu ihm hin, fällt sein Blick zu Boden, und er verschwindet hinter zwei zankenden Händlern. War das nicht Lysias, mein Freund aus Melos? Ich wende mich wieder dem Stand des Speusippos zu, warte auf die Gelegenheit, meine Wünsche anzubringen, da raunt mir jemand ins Ohr.
„Du kennst mich, wir sind beide aus Melos und nur darum will ich dir helfen. Komm zum Friedhof hinter die Grabstele des Peisandros.“
Ich drehe mich um, aber da sind nur die Menschen, die schon vorher mit mir auf eine Gelegenheit gewartet haben. Die Worte sind aber in mein Gedächtnis eingegraben. Ich will dir helfen. Wozu helfen? Ich brauche keine Hilfe, es geht mir gut! Was soll das? Ein sonderbares Gefühl ist aber da. So kaufe ich schnell, was ich brauche, besorge mir noch einen Olivenzweig und eile zum Friedhof. Wo ist das Grab des Peisandros? Ich wandere auf und ab und plötzliche sehe ich die Stele. Nun lege ich den Olivenzweig auf ein Grab, verbeuge mich, um wie ein Grabbesucher auszusehen, denn irgendetwas warnt mich: Sei vorsichtig. Dann schreite ich langsam zu der Stele. Eine Stimme zischt:
„Schnell, setz dich zu mir, da in den Schatten.“
Und wirklich, mein Freund aus Melos ist es, der mich angestarrt hatte. Er sitzt zusammengekauert in der dunklen Ecke zwischen dem Olivenbaum und der Stele. Ich quetsche mich neben ihn, damit wir nicht gesehen werden können.
„Was soll das?“ frage ich.
Er hält die Hand hoch.
„Still, hör zu,“ und flüstert: „Deine Familie ist in grosser Gefahr. Du weisst, ich bin Sklave bei Kritias, daher weiss ich, was dort geschieht. Dein junger Herr trifft sich mit der Tochter des Kritias, ich selbst habe ihn über die Mauer klettern und in den Frauengemächern verschwinden sehen. Du weisst, was das bedeutet. Die Tochter ist dem Sohn des Hippomachos versprochen. Sie liebt es aber mit Männerherzen zu spielen. Kanntest du den Sohn des Antores? Auch er schlich zu ihr, er war verliebt über beide Ohren, aber sie hat ihn verraten und seither hat man nichts mehr von ihm und seiner Familie gehört. Sind sie tot? Oder in Laurion? Oder als Sklaven verkauft? Niemand weiss es. Euch wird es gleich ergehen, ich bin sicher nicht der einzige, der den Jungen gesehen hat. Sobald Kritias davon weiss, bricht Unheil über eure Familie herein, darum warne ich dich, rettet euch so schnell ihr könnt. Mit Kritias ist nicht zu spassen.“
Mein Inneres hat sich zu Stein verwandelt. Sich mit Kritias anlegen, das ist wohl das Dümmste was man tun kann. Er ist brutal und gewissenlos. Er ist der mächtigste der Dreissig Tyrannen, die nach der Kapitulation mit Hilfe der Spartaner die Macht übernommen haben. Zuerst waren alle froh, dass der Krieg vorbei war und nun etwas Ruhe einkehren würde. Aber vor allem Kritias hat sofort eine Schreckensherrschaft aufgezogen. Flüsternd berichten die Leute von ermordeten, verschwundenen und in die Sklaverei verkauften Menschen. Mein Herr ist nicht direkt von Kritias abhängig. Sein Schutzherr ist Theramenes, ein freundlicher und umgänglicher Mensch. Wären alle Tyrannen wie er, könnte sich Athen glücklich schätzen und in Frieden und Wohlstand leben. Kritias aber kennt offenbar nur ein Ziel: noch grössere Macht und vor allem Reichtum. Es ist schon ein Vergehen, sich in Frauengemächer einzuschleichen, ganz egal bei wem und wo. Niemand wird dies ungestraft lassen. Bei Kritias aber ist dies der sicherste Weg in ein schreckliches Unheil. Es ist ganz klar: Er wird unsere Familie vernichten. Mit einem Schlag ist der Glückspalast, in dem wir uns wähnten, zerbrochen.
„Rette dich und deine Familie,“ wiederholt Lysias steht auf, legt seine Hand auf meine Schulter.
„Alles Gute, Bruder!“ und dann ist er wie ein Schatten verschwunden.
Ich sitze erstarrt in der Ecke hinter der Stele. All die schrecklichen Dinge, die man hinter vorgehaltener Hand von Kritias erzählt hat, schiessen mir durch den Kopf. Wir Sklaven werden gar nicht beachtet, darum erfahren wir viel mehr, als unsere Herren denken und der Austausch dieser Nachrichten läuft wie geschmiert. Sicher ist alles Mögliche heillos übertrieben, aber wenn nur die Hälfte von dem, was man sich über Kritias erzählt, stimmt, ist es schon ungeheuerlich genug.
Meine Beine wollen erst gar nicht gehorchen, aber dann springe ich auf und laufe so schnell ich kann durch die verwinkelten Gassen zu meinem Haus. Eile tut Not, wer weiss, vielleicht hat Kritias schon davon erfahren und hetzt seine Schergen auf uns. Zuerst renne ich auf dem schnellsten Weg durch die breiten Gassen. Dann weiche ich in die kleineren Gässchen aus, und immer wieder schaue ich zurück. Verfolgt mich jemand? Sind die Leute des Kritias schon auf dem Weg zu unserem Haus?
Haben wir uns alle zu sicher gefühlt, die Zeit des Glückes zu sehr genossen? Ariston fühlte sich immer auf dem Olymp angekommen, wenn er sich im schattigen Hof ausruhen konnte, die Klänge von Phoebes Lyra über ihn hinweg zogen und er Ismene von seiner Arbeit erzählen konnte. Kann ein Mensch noch glücklicher sein, fragte er immer wieder. Ismene hingegen hat sich Sorgen gemacht, aber tun das die Frauen nicht immer? Sie hat von unseren Nachbarinnen gehört, dass ein paar Familien verschwunden sind. Über Nacht, einfach weg.
„Da ist etwas Schreckliches passiert,“ sagte Ismene, „ich traue diesem Kritias nicht, oder besser gesagt, ich traue ihm alles zu. Vielleicht sind die Leute von seinen Schergen umgebracht worden? Oder in die Sklaverei verkauft? Vielleicht sind sie in Laurion, niemand weiss es.“
Ich habe diese Gerüchte auch gehört und gebe zu, auch mich haben sie beunruhigt. Ich bin ja nur der Sklave, aber Aristons Familie ist unterdessen meine Familie, sie liegt mir am Herzen und ich möchte sie beschützen. Allzu grosse Sorgen habe ich mir aber trotzdem nicht gemacht, denn Ariston ist ja nur ein Metöke, wir sind also nicht so wichtige Leute, und Theramenes hält seine schützende Hand über ihn.
Ariston hat immer wieder betont:
„Uns kann nichts passieren, wir sind sicher! Vielleicht sind diese Gerüchte ja gar nicht wahr. Warum sollten nicht ab und zu Familien einfach wegziehen? Sie reisten vielleicht zurück zu ihren alten Eltern irgendwo in den Hügeln? Fanden einen neuen Wirkungskreis in einer grossen, florierenden Hafenstadt? Da gibt es so viele Möglichkeiten, kein Grund, sich Sorgen zu machen.“
Ich war mir da nicht so sicher, dachte aber, ich sehe wohl einfach zu schwarz. Auch Ismene sagte zwar nichts mehr, aber ihr Schweigen sprach für sich. Ihre Sorgen sind immer noch da, da bin ich sicher, weil aber eine ganze Weile keine solchen Schreckensmeldungen mehr die Runde machten, hat bestimmt auch sie ihre Sorgen ein wenig abgelegt und die glücklichen Tage genossen, die ich nun zerstören werde. Die grosse, bunte Seifenblase des Glücks, in der alle sich sicher glaubten, wird durch meine Nachricht zerplatzen.
Es ist bald Abend. Niko sollte aus dem Gymnasium zurück sein. Ariston hat erlaubt, dass er ohne meine Begleitung dorthin geht, er ist ja sechzehn, also schon ein junger Mann und braucht, wie er immer wieder betont, kein Kindermädchen mehr. Ich hoffe sehr, dass er schon zu Hause ist.
Atemlos stürze ich in den Hof, knalle das Tor zu und schaue mich um. Ariston springt erschrocken auf, normalerweise trete ich leise wie ein Schatten ein, aber heute tut Eile Not, da gibt es keine Rücksichten. Sofort erkennt Ariston, dass ich in heller Panik bin, ihm ist klar, dass etwas Ungeheuerliches passiert sein muss. Niko ist nicht im Hof, ist er im Haus oder noch in der Stadt? Ich versuche wieder zu Atem zu kommen und wende mich dann an Ariston:
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