Schweigend machen wir uns auf den Weg, alle sind bestrebt, keine Steine anzustossen, um nicht unnötigen Lärm zu verursachen. Das Wäldchen ist bald zu Ende und ein steiles, heisses Stück Weg liegt vor uns. Hinter zwei mächtigen Felsbrocken stehen wir dann vor der Gabelung. Der linke Weg führt weiter steil nach oben, verliert sich dann aber bald in Gebüsch und Schatten spendenden Bäumen. Der Pfad ist ab und zu kaum mehr zu erkennen, aber noch ist es hell und wir entfernen uns immer weiter vom anderen Weg und den Reitern, die hoffentlich immer noch dort auf der Suche sind. Das Gestrüpp wird etwas lichter, als die Sonne als blutrote Scheibe versinkt. Noch ist der Himmel blass blau, aber bald wir es ganz dunkel sein. Wir brauchen einen Platz, wo wir die Nacht wenigstens bis zum Morgengrauen verbringen können. Dies ist nun allerdings schwierig. Weit und breit kein Haus, was ja gut ist, Häuser bedeuten Menschen, und Menschen könnten uns verraten, aber auch keine Hütte eines Schäfers, kein Unterstand, einfach gar nichts. Sollen meine Herrin und die Tochter unter einem Baum schlafen? Das wäre wohl das erste Mal in ihrem Leben. Bei ein paar grossen Steinbrocken lasse ich alle anhalten:
„Bleibt einmal hier, setzt euch hin und wartet, ich gehe auf die Suche nach einem guten Platz zum Übernachten.“
„Ich komme mit,“ findet Niko, und wir zwei ziehen los. Ariston bleibt bei den Frauen. Wir streifen über eine Art Weide, durchsetzt mit Gestrüpp und kleinen, krummen Bäumchen. Weit und breit ist nichts zu sehen, oder doch? Ein dunkler Schatten am Rande des Feldes fällt mir auf.
„Was ist das dort?“
Wir beschliessen, nachzusehen und finden eine verlassene Schäferhütte, nicht besonders gross, aber über eine Leiter ist ein Dachboden zu erreichen, der mit Stroh ausgelegt ist und wohl schon immer als Schlafstätte gedient hat, allerdings nur mit wenig Platz. Für die Frauen wird es reichen, und die Männer schlafen unten. So bringen wir unsere Familie zu der Schäferhütte und alle sind froh, ein Dach über dem Kopf zu haben.
Bald ist unsere karge Mahlzeit gegessen, und alle legen sich schlafen. Im Morgengrauen schüttelt mich Ariston.
„Panos,“ flüstert er „schläfst du?“
Ich bin sofort hellwach. Er bedeutet mir, vor die Hütte zu kommen. Neugierig folge ich ihm. Da drückt er mir etwas in die Hand.
„Panos, mit diesem Stück Papyrus lasse ich dich frei. Du kannst ja lesen, besser als ich, da siehst du, dass ich dir deine Freiheit wieder zurückgebe. Du hast dieser Familie treu gedient, immer wieder hättest du fliehen können, aber immer wieder bist du bei uns geblieben. Du hast die Freiheit mehr als verdient.“
Wie hatte ich mir diesen Moment immer wieder ausgedacht, immer war da eine Flucht im Spiel, und ich hatte recht, wir sind auf der Flucht, aber alle miteinander und nicht ich allein. Ein unglaubliches Glücksgefühl erfasst mich, ich bin endlich wieder ein freier Mann und kann tun und lassen, was ich will. Ich könnte mich auch retten und die Familie dem Schicksal überlassen, denn Kritias sucht die Familie des Ariston und nicht einen ehemaligen Sklaven. Aber ich weiss schon, ich werde dies nicht tun, diese Familie ist auch meine Familie, und ich habe mein Herz heimlich schon an die Tochter verloren, auch wenn sie jetzt erst dreizehn Jahre alt ist.
Ich will mich bedanken, doch meine Stimme versagt den Dienst. Erst nach einer Weile kann ich mich in aller Form bedanken. Aber Ariston winkt ab.
„Du hast es dir noch und noch verdient, ich bedanke mich für all das, was du für meine Familie getan hast. Als freigelassener Sklave hast du aber keine gute Stellung in der Gesellschaft. Unser ganzes Leben verändert sich jetzt, wir sind nicht mehr die, die wir einmal waren, und daher ist es einfach, auch dir eine bessere Stellung zu geben. Ich kann dich nicht gut als zweiten Sohn ausgeben, aber wir erklären, dass du der Sohn eines verstorbenen Freundes bist, der in unserer Familie lebt. Jeder wird das glauben, und damit bist du uns gleichgestellt, wir sind zwar nur Handwerker, aber immerhin. Und wenn die Götter uns hold sind, werden wir eines Tages zu respektierten Bürgern werden!“
Uns geht es zurzeit schlecht, noch wissen wir nicht, ob uns die Flucht vor Kritias gelingt, aber ich bin so glücklich, wie noch nie.
„Wir müssen jetzt die anderen wecken,“ brummt Ariston, „ein weiterer anstrengender Marsch liegt vor uns!“
Und so kehren wir in die Hütte zurück, wecken alle Schläfer und machen uns wieder reisefertig.
Bevor wir uns aber auf den Weg machen, bedeutet er der Familie zuzuhören. Er erzählt, dass ich von nun an nicht ein Sklave sondern ein entfernter Verwandter sei.
„Ihr alle wisst, dass Panos aus einer edlen Familie stammt und als Kriegsgefangener zum Sklaven wurde. Er hat eine ausgezeichnete Erziehung genossen, daher wird niemand diese Geschichte anzweifeln.“
Niko ist zuerst sprachlos, dann aber bestätigt er:
„Ja, es ist wahr, Panos ist ein besserer Fechter als ich, er kann lesen und schreiben. Seine Ausbildung war mindestens so gut wie die, die ich in Athen genossen hatte. Er wird uns als Familienmitglied keine Schande machen, im Gegenteil, und wenn er uns nicht geholfen hätte, wären wir unterdessen wohl alle Sklaven!“
Ismene nickt, Phoebe und Anisa sind natürlich etwas erstaunt, aber Ariston ruft: „Vorwärts!“ Alle marschieren los, Zeit genug um unterwegs über die neue Sachlage nachzudenken.
Bald brennt die Sonne wieder vom Himmel und jeder Schatten ist eine Wohltat. Von Reitern ist weit und breit nichts zu sehen, der Klumpen der Angst, der in unserem Inneren sitzt, wird etwas leichter, aber immer wieder bringt ein unbekanntes Geräusch, ein entferntes Glitzern, ein Stück offenes und leicht einsehbares Gelände unsere Furcht mit voller Kraft zurück.
Unser Pfad durch die Hügel ist offenbar nicht sehr begangen, einmal sehen wir weit entfernt einen Schäfer, einmal ein paar Menschen mit Lasten auf dem Rücken, an den Abhängen sind auch kleine Gehöfte und sogar ein winziges Dorf zu sehen. Wir umgehen aber alle diese, denn wir fühlen uns am sichersten, wenn wir gar nicht allzu vielen Menschen begegnen.
Wie gestern finden wir am Mittag einen guten Rastplatz, um die heisseste Zeit des Tages vorbeigehen zu lassen. Alle ruhen sich aus, nur Ismene ist tief in Gedanken versunken. Schliesslich fragt sie:
„Ist das auch richtig, was wir da tun? Der Weg nach Korinth ist weit und beschwerlich. Wir sind schon oben in den Hügeln, wir könnten doch nach Theben flüchten, nicht von der Strasse von Süden her, wo sicherlich die Schläger des Kritias den Weg kontrollieren, sondern von Westen her, da erwarten sie uns ja wohl nicht. Der Weg nach Theben wäre viel kürzer. Was meint ihr?“
Ariston antwortet sofort:
„Ja, das ist schon richtig, Theben wäre näher. Nur bedenkt, was nachher passiert. Sich in Sicherheit bringen ist das eine, dort leben etwas anderes. In Sizilien kenne ich Leute, vor allem meinen alten Lehrmeister, Eukleidas, dort kann ich sofort wieder als Stempelschneider arbeiten und damit die ganze Familie ernähren. Was soll ich aber in Theben tun? Die Münzen, die dort geschlagen werden, sind so einfach gestaltet, die Stempel dazu kann jeder halbwegs geschickte Sklave herstellen, und sie werden wohl auch so gemacht. Was also würde ich dort arbeiten? Wie könnten wir unseren Lebensunterhalt verdienen? Wir haben kein Land dort, keine Olivenbäume, keine Schafe, rein gar nichts. Männer, die allein sind, können sich dort als Söldner verdingen, aber eine Familie?“
Alle sind still, daran haben wir gar nicht gedacht, die Flucht hat unser ganzes Sinnen und Trachten ausgefüllt, aber es stimmt schon, nach der Flucht muss das normale Leben wieder beginnen, wir alle brauchen wieder ein Dach über dem Kopf, etwas zu essen und etwas anzuziehen.
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