Wenn mich etwas wirklich interessiert, bin ich ein aufmerksamer Zuhörer. Deshalb war es mir nicht entgangen, dass Poggibonsi von einer gefährlichen Situation für „uns“ und von "unserem Mann" gesprochen hatte. Ich wollte es seiner verhaltenen Arroganz nicht unterstellen, dass er von sich im pluralis majestatis sprach und folgerte, dass nicht er allein, sondern er zusammen mit anderen in Gefahr schwebte. Ich beschloss, dass es bis zum Rückweg warten könne, ihn danach zu fragen und beschränkte mich darauf festzustellen, „da haben wir ihn ja, den Grund, warum die Emigranten Leopold hassten bis auf’s Blut.“
"Ja, das schon", gab mir Poggibonsi recht, "aber zu resignieren liegt außerhalb der Vorstellungswelt der exilierten Brüder des französischen Königs, das wissen wir. Könnt ihr Euch vorstellen was stattdessen in ihren prinzlichen Bourbonenköpfen vorging, um doch noch ihres verlorenen Königreichs wieder habhaft zu werden.“ „Das ist nicht schwer zu erraten“, antwortete Lux. „Jedermann weiß, dass Leopolds Sohn und Nachfolger Franz, ihren Wünschen sehr nahe steht. Um ihre Pläne zum Erfolg zu führen, mussten ihm die Prinzen den Weg frei machen, als Kaiser Franz II. den Thron besteigen zu können. Das ist ihnen nun auch gelungen.“ „Ja, so scheint es zu sein“, bestätigte Poggibonsi mit einem tiefen Seufzer und fügte kämpferisch an, „das ist ein harter Schlag, aber wir werden ihn zu parieren wissen.“ Bevor wir aufbrachen fragte Poggibonsi unseren Gastgeber noch nach seinen weiteren Plänen und auch, ob er persönliche Kontakte nach Paris pflege. „Nein“, antwortete Lux, „derzeit nicht. Ich werde hier gebraucht.“ „Natürlich, die Familie geht vor“, räumte Poggibonsi enttäuscht ein. Lux schüttelte energisch den Kopf. „Keineswegs, die Revolution hat den Vorrang vor allem anderen, auch vor der Familie“, entgegnete er hitzig. „Mainz wird die erste Republik auf deutschem Boden sein. Dafür werde ich hier gebraucht.“ Die Männer umarmten sich stumm. Als uns Lux noch bis zum Wagen begleitete, warnte ihn Poggibonsi, „achten Sie gut auf sich, mein lieber Freund, und vergessen Sie nicht, dass allzu himmelstürmende Begeisterung den Keim der Verzweiflung in sich trägt.“ Lux fasste ihn an den Schultern, schaute ihm fest in die Augen und antwortete stürmisch, „ein lauwarmes Herz taugt nicht für die Revolution. Glühen muss man, will man andere zum Äußersten mitreißen.“ „Wohl wahr, erwiderte Poggibonsi zurückhaltend und beließ es dabei. Ein Sturm lässt nicht mit sich debattieren, er muss sich austoben. Poggibonsi schwang sich neben mich auf den Wagen und hob zu einem letzten Gruß die Hand. Während der Wagen schon zum Hoftor hinaus rollte, hörte ich, wie Lux uns noch das Credo seines Abgottes Jean Jaques Rousseau nachrief: „Volkssouveränität, Menschenrechte, Gesellschaftsvertrag.“
Es war schon fast dunkel, als wir gemächlich zurück nach Mainz rollten. Was ich in der Donnermühle erlebt hatte, beunruhigte mich nicht wenig. Poggibonsi hatte mit Interna des Wiener Hofes argumentiert, die der Öffentlichkeit unbekannt waren. Offenbar stammten sie von seinem Gewährsmann im innersten Zirkel des Kaisers, dem ich auch Einfluss auf die Deklaration von Pillnitz zutraute. Ich fragte mich, was Poggibonsi dazu bewogen haben mag, die Gefahr einzugehen, einen Fremden, wie mich, ins Vertrauen zu ziehen, und welche Folgen diese ungebetene Offenherzigkeit für mich nach sich zöge? Poggibonsi saß neben mir und hüllte sich in beharrliches Schweigen. Ich konnte ihm aber den Trappisten nicht durchgehen lassen, nicht nachdem, was ich bei Lux gehört hatte. Bevor wir die Brücke über den Rhein erreichten, lenkte ich den Wagen an die Straßenseite und hielt an. Poggibonsi sah mich missbilligend an und murrte, „beeilen Sie sich wenigsten, wenn Sie schon in stockfinsterer Nacht nicht warten können bis wir in der Stadt sind.“ „Ich muss mich nicht erleichtern, aber wie wäre es mit Euch?“ „Sie unverschämter Kerl! Was erlauben Sie sich“, empörte sich Poggibonsi und forderte mich auf, ihn ohne Verzug zurück nach Mainz zu bringen. „Das will ich gerne tun, aber erst, wenn Ihr Euch dazu herabgelassen habt, mir zu erklären, was das alles zu bedeuten hat.“ „Was zu bedeuten hat?“, schnappte er zornig. „Euer Besuch bei Lux.“ „Das ist doch ganz offensichtlich. Ich suche nach jemandem geeigneten, der für unsere Sache nach Paris geht. Lux hat abgelehnt. Das war alles.“ „Das war bei weitem nicht alles“, widersprach ich heftig. „Was sollte denn dieser ganze Exkurs zur gegenwärtigen politischen Lage im Reich?“ „Ich musste Lux natürlich auf den Zahn fühlen, bevor ich ihn fragen konnte, ob er bereit ist, sich in den Hexenkessel von Paris zu wagen.“ „Und was verdeckt Ihr, wenn Ihr von ‚unserer Sache‘ sprecht“, hakte ich nach. Offenbar hatte ich einen wunden Punkt erwischt, denn er überlegte, bevor er sich zu einer Antwort bereitfand, „das ist etwas, worüber ich ohnehin mit Ihnen sprechen wollte, wenn auch nicht gerade in kalter Nacht auf einem harten Kutschbock sitzend.“ Vielleicht fror er wirklich. An einem Märzabend unten am Fluss, wenn sich die Feuchtigkeit in die Kleidung nistet, wäre das kein Wunder und es mag auch sein, dass sein Sitz anfing ihm unbequem zu werden. Aber darauf konnte ich keine Rücksicht nehmen. Erst einmal wieder unter Menschen, wäre es für ihn ein Leichtes mich los zu werden und nie würde ich erfahren, auf welche Sorte Geheimbündlern ich mich mit ihm eingelassen hatte. „Mir gefällt es hier“, zerstörte ich seine Hoffnung auf baldige Weiterfahrt. Er schwieg bockig. Um das Gespräch wieder in Gang zu bringen, eröffnete ich ihm, dass mir in der Donnermühle schon das eine oder andere Licht aufgegangen sei. „Und das wäre?“ „Zum Beispiel, dass es Euch darum geht, Frankreich vor dem drohenden Krieg zu schützen und warum Ihr das wollt, lässt sich leicht an den fünf Fingern abzählen.“ „Was glauben Sie denn, warum wir ausgerechnet diesen Krieg nicht wollen?“ „Weil Ihr für das, was in Frankreich gerade das Oberste zu unters kehrt, Sympathien hegt. Nicht wahr?“ „Da haben Sie sich die Antwort schon selbst gegeben. Dem revolutionären Frankreich den Krieg zu ersparen, das ist „unsere Sache“ und jetzt sagen Sie mir gefälligst, warum Sie das so sehr interessiert, dass Sie mich gegen meinen Willen hier festhalten.“ Poggibonsi hatte den Spieß umgedreht. Seine Fragen kamen Schlag auf Schlag. „Für wen arbeiten Sie? Sind Sie ein Agent der Regierung oder spionieren Sie für die Emigranten oder geht es nur ums liebe Geld? Äußern Sie sich nur freimütig, ich werde Sie nicht bloßstellen. Vielleicht kommen wir ja sogar ins Geschäft.“ Er verspottete mich und mir war plötzlich gar nicht mehr wohl in meiner Haut. Es wurmte mich gewaltig, Poggibonsi Anlass gegeben zu haben, mich, den ehelich geborenen Sohn des ehrsamen Weinwirts Vogelsang zu Straßburg, für einen schlechten Kerl zu halten und ein bisschen schämte ich mich auch dafür. „Ich war unüberlegt“, begann ich mich zu entschuldigen, „seht das bitte meiner Jugend nach. Ich versichere Euch, für niemanden zu spionieren und um Geld geht’s mir auch nicht.“ Kaum hatte ich die Entschuldigung heraus gehaspelt, griff ich nach den Zügeln. Es war höchste Zeit Poggibonsi in die Stadt zu bringen. „Einen Moment noch“, hielt er mich zurück „Wenn Sie, wie Sie behaupten, kein Agent sind, warum haben Sie dann versucht mich zu verhören?“ Ich fühlte mir die Röte ins Gesicht steigen und war froh, dass die Dunkelheit mich schützte, als ich leichthin antwortete, „Ihr habt mich einfach nur neugierig gemacht.“ Darauf lachte er, „das scheint mir ja gelungen zu sein.“ Ich war noch damit beschäftigt zu verdauen, was er mir eben serviert hatte, da hörte ich ihn sagen, „es ist spät geworden. Ich würde Sie gerne in mein Quartier einladen, um uns gründlich auszusprechen, aber die Wände dort haben Ohren. Was halten Sie von einem Spaziergang dem Rhein entlang, gleich morgen. Das Wetter scheint zu halten. Wieder um drei am Eisenturm?“ Ich nickte stumm.
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