Anfangs kreuzte ich seinen Blick stets scheinbar zufällig, in der Hoffnung, mir den Herrn in einem unbeobachteten Moment einmal eingehender betrachten zu können. Aber je öfter ich dies versuchte, desto deutlicher musste ich erkennen, dass er mir selbst unverhohlen dabei zusah, wie ich alleine dasaß, aus meinem Becher trank, ohne dass dieser sich leerte, und mich meinen Betrachtungen hingab.
Zunächst bemühte ich mich, einfach darüber hinwegzusehen und mich auf die Wirtin zu konzentrieren, die wieder einmal ein halbes Dutzend überschäumende Bierkrüge durch den Raum schaukelte. Dann lenkte ich meine Aufmerksamkeit auf zwei zankende Männer, die sich gegenseitig beim Kartenspielen übers Ohr gehauen hatten und es nun jeder für sich abstritten. Auf diese Weise tat ich es noch mit vielen anderen Szenen, die sich um mich herum abspielten. Doch seit ich wusste, dass der Alte mich dabei beobachtete, fühlte ich mich zunehmend befangen, sodass ich schließlich beschloss, zu zahlen und die Taverne zu verlassen.
Mit einem verärgerten Blick in seine Richtung stand ich auf und wollte gerade gehen, als er mich mit einem entschuldigenden Lächeln und einem kurzen Wink dazu aufforderte, mich doch zu ihm zu setzen.
Ich zögerte.
Der Alte bemerkte dies und erhob sich förmlich, um mir mit einer angedeuteten Verbeugung einen Stuhl anzubieten, den er etwas von dem Tisch zurückzog. Dabei sah er mich auf eine Weise an, die einerseits sein besonderes Interesse an mir, als auch eine anziehende Warmherzigkeit verriet.
Hin- und hergerissen zwischen dem Ärger über die fehlende Diskretion des Alten sowie der Wissbegier, was er sich wohl von mir versprechen mochte, entschloss ich mich schließlich dazu, seinem Angebot zu folgen.
Stumm ging ich zu ihm hinüber, setzte mich auf den angebotenen Stuhl, lehnte mich betont lässig zurück und betrachtete ihn fragend mit einer hochgezogenen Augenbraue, als wolle ich ihn dadurch zur Rechenschaft ziehen. Schmunzelnd und ohne auch nur im Geringsten Anstoß an meiner Gebärde zu nehmen, streckte der Alte mir zum Gruß seine Hand entgegen.
`Mein Name ist Heinrich von Schwarzenstein.´ Die Stimme des Alten hatte etwas von einer rostigen, frisch geölten Radnabe: sie klang widerstandslos dahin gleitend und doch rau.
Schweigend erwiderte ich die Geste und reichte ihm auch meine Hand.
`Und wie nennt man Sie?´, fragte er, während er um den kleinen Tisch herumging und mir gegenüber wieder Platz nahm.
`Warum beobachten Sie mich?´, erwiderte ich bloß grob und überging damit die Vorstellung einfach.
Heinrich allerdings zeigte sich nicht weiter durch meine Unhöflichkeit beeindruckt. Er lächelte bloß milde, als sehe er sie mir verständnisvoll nach.
`Wollen Sie mir nicht doch Ihren Namen verraten, bevor wir das Gespräch beginnen?´
`Wenn ich es gewollt hätte, hätte ich es wohl getan, nicht wahr?´ Um meine strikte Haltung noch zu unterstreichen, verschränkte ich meine Arme vor der Brust und blickte Heinrich direkt in die Augen. Dieser aber grinste nur darüber und für einen kurzen Moment fühlte ich mich an einen Lehrer erinnert, der sich über seinen trotzigen Schüler amüsiert.
`Nun gut, Namenloser, dann erfahre ich Ihren Namen vielleicht später?´, fragte er und zwinkerte mir dabei zu.
`Also, warum beobachten Sie mich?´ beharrte ich, ohne weiter auf seine Bemerkung einzugehen.
Ich wollte es in der Tat brennend gerne wissen und je mehr ich mich von Heinrich wie ein kleiner Schuljunge vorgeführt fühlte, desto ungehaltener wurde ich darüber. Zuletzt überlegte ich ernsthaft, ob ich überhaupt bereit war, noch auf eine Antwort zu warten oder ob ich nicht einfach aufstehen und gehen sollte. Sollte er sich doch über jemand anderes lustig machen...
`Sie sind anders als die Anderen hier´, antwortete Heinrich dann aber so unvermittelt und mit solch überraschend plötzlichem Ernst, dass ich ihn bloß anstarrte. Er erwiderte meinen Blick und aus seinem Gesicht war dabei jedweder Schalk gewichen.
`Ich sehe den Tod in Ihren Augen´, fuhr er ohne Umschweife fort.
Das verschlug mir nun vollends die Sprache. Ich muss zugeben, dass ich in dem ersten Moment einfach nur verblüfft, ja, sogar betroffen war. Und während ich noch darüber nachdachte, wie Heinrich diese Worte wohl gemeint haben könnte, spürte ich, wie er mich interessiert betrachtete, fast als untersuche er mich, ohne sich darüber bewusst zu sein, dass sein Gegenüber kein Forschungsobjekt, sondern – na ja, zumindest dem Anschein nach – ein Mensch darstellte.
`Ich fürchte, ich verstehe nicht, was Sie da reden´, flüchtete ich mich aus der Situation heraus.
`Oh, verzeihen Sie!´ Heinrich rückte noch etwas näher an den Tisch heran und stützte sich mit den Armen darauf ab, während er sich ein Stück zu mir vorbeugte.
`Lassen Sie mich meine Äußerung genauer erklären!´
Ich nickte bloß kurz.
`Nun, wie soll ich beginnen...´ Nachdenklich runzelte er die Stirn und blickte dabei versonnen auf seine Hände, die er vor sich gefaltet hatte. Dann, als wisse er jetzt die Worte, mit denen er anfangen wollte, hob er den Kopf, um mir wieder ins Gesicht zu schauen.
`Ich habe den Tod in schon vielen Gesichtern gesehen. Ich sah ihn beispielsweise bei meiner Frau und leider auch bei meinem einzigen Sohn... Ich sah ihn außerdem noch bei vielen anderen Menschen: Freunden, Verwandten, Kameraden. Dabei hatten jedoch alle etwas gemeinsam: sie waren zu diesem Zeitpunkt entweder ernsthaft erkrankt oder schwer verletzt. Und...´, Heinrich machte eine betretene Pause, `...sie sind alle bald darauf verstorben.´
Erneut schwieg Heinrich und betrachtete seine furchigen Hände, die noch immer wie zwei verschlungene Baumwurzeln auf dem Tisch ruhten. Dann richtete er seinen stahlblauen Augen wieder auf mich.
`Doch es ist nicht nur das... Ich bin nun selber alt und meine Jahre auf dieser Erde sind gezählt... Glauben Sie mir, nicht zuletzt auch dies schärft meinen Blick.´
Ich hatte Heinrich aufmerksam zugehört und doch fehlte mir die Verbindung zu dem, was er nun über mich behauptet hatte. Er konnte doch unmöglich wissen, was ich war...
Heinrich bemerkte meine Skepsis und bemühte sich, rasch fortzufahren.
`Sie allerdings fallen vollkommen aus dem Rahmen! Wenn ich in Ihre Augen schaue, dann erkenne ich darin den Tod, doch alles an Ihnen erscheint bei bester Gesundheit, strotzend vor Kraft und Energie. Ein junger Mann in seinen besten Jahren...´
Heinrich kniff die Augen zusammen, als hoffe er, auf diese Weise durch meine äußere Erscheinung hindurch in mein Inneres blicken zu können. So sah er mich eine Weile an. Dann jedoch gab er seinen Versuch mit einem leichten Kopfschütteln auf und sprach endlich weiter: `Nein, es ist nicht allein in Ihren Augen... Das ist falsch! Es ist nicht der Tod, der Sie bedroht... Es ist eher...´ Heinrich zögerte einen Moment und auf einmal weiteten sich seine Augen, `...es ist eher der Tod, der Sie umgibt... oder begleitet... Ja, das ist es!´
Heinrich sah mich an, als habe er plötzlich etwas an mir entdeckt, das ihn erschreckte, aber ebenso auch faszinierte, und ich selbst war schlicht weg beeindruckt.
Woran genau konnte er den Tod erkennen? Und wie konnte er ihn so exakt begreifen? Wusste er womöglich mehr über mich, als er vorgab?
Ich saß skeptisch zurückgelehnt auf meinem Stuhl und beobachtete Heinrich aufmerksam, ohne dabei auch nur eine Miene zu verziehen. Ich beobachtete ihn dabei, wie er mich eingehend studierte und auf meine Reaktion wartete. Doch ich hielt es für klüger, nur ihn sprechen zu lassen und blieb daher stumm.
Plötzlich lächelte Heinrich. Er lächelte mir unverwandt ins Gesicht, ohne den Anflug eines Misstrauens oder der Ablehnung. Es lag nichts als ein zutiefst ehrlicher Ausdruck darin und ich merkte, dass ich geneigt war, ihm blindlings zu vertrauen; allein wegen dieses Lächelns.
Читать дальше