`Für weniger hätte ich das Risiko auch nicht auf mich genommen...´, knurrte er.
Ich war überrascht.
`Welches Risiko?´, fragte ich und der Fahrer blickte mich daraufhin nicht weniger überrascht an.
`Wissen Sie denn nicht, was hier nachts geschieht? Sie sind wohl nicht von hier.´
Neugierig zog ich die Stirn kraus.
`Nein, aber vielleicht mögen Sie mir ja Näheres erzählen...´
Der Kutscher – sein Name war Ulrich – starrte grimmig geradeaus und schloss dabei seine Hände zu festen Fäusten um die Zügel.
`Hier kommen nachts Menschen zu Tode...´, sagte er und senkte dann seine Stimme um eine Tonlage, wohl um den folgenden Worten noch mehr Bedeutung zu verleihen: `Und es heißt, sie sterben nicht auf natürliche Weise!´
`Mhm...´
Ich war etwas enttäuscht, klang es doch arg nach einem kindischen Ammenmärchen, das nichts anderem dienen sollte, als sich gegenseitig Angst einzujagen.
`Nun, wer weiß, vielleicht haben sie sich zu Tode erschreckt, weil es dunkel draußen geworden ist.´ Ich versuchte, mir ein spöttisches Grinsen zu verkneifen.
Ulrich schaute mich entrüstet an und für einen kurzen Augenblick meinte ich, Zorn in seinen Augen aufblitzen zu sehen.
`Verzeihen Sie, ich wollte Sie nicht unterbrechen. Es war bloß ein dummer Spaß von mir´, beeilte ich mich, ihn wieder zu besänftigen, damit er weiter sprach.
Nach einem missmutigen Seitenblick in meine Richtung fuhr Ulrich schließlich fort: `Es heißt, ein Dämon fällt hier des Nachts über die Menschen her, um ihre Seelen auszusaugen und mit sich in die Tiefen der Hölle zu reißen.´
Es folgte eine Pause, in der Ulrich sich verhalten umblickte, als befürchtete er, dass er allein durch seine Worte eben diesen Dämon aus der Dunkelheit heraufbeschwören könnte.
`Also gut´, nahm ich daraufhin den Faden auf, `hier kommen also nachts Menschen zu Tode... Aber wieso ausgerechnet sollte ein Dämon sie töten? Wie steht´s mit Mördern von ganz menschlicher Natur, die ihr Unwesen hier treiben? Das wäre doch eine viel naheliegendere Erklärung, oder?´
Ulrich schüttelte energisch seinen Kopf, während er mich mit großen Augen anblickte, als hätte ich noch nicht recht verstanden.
`Nein, es heißt, dass man bei den Leichen...´ Ulrich schluckte, als müsse er erst einen Widerstand in seiner Kehle überwinden, bevor er weitersprechen konnte. `... Na ja, dass man bei ihnen Bisswunden am Hals gefunden hat. Immer an der gleichen Stelle. Und zwar hier...´
Er tippte mit seinem Finger auf seinen Hals, dorthin, wo die Halsschlagader verlief. Eine mir durchaus sehr vertraute Stelle.
`Sie sehen - so sagt man - weder aus, als seien sie von einem Raubtier, noch von einem Menschen. Vielmehr würde... beides gleichzeitig passen.´
Diesmal war ich es, der den plötzlichen Widerstand in seiner Kehle überwinden musste. Entgeistert starrte ich Ulrich an.
`Sehen Sie, jetzt vergeht Ihnen Ihr Spott´, sagte er daraufhin, nicht ohne einen gewissen Triumph in seiner Stimme. Er dachte wohl, die Furcht habe mich nun doch gepackt, denn er konnte ja nicht wissen, dass es in Wirklichkeit Sorge war, die mich zusammenfahren ließ. Unwillkürlich fuhr ich mit meiner Zunge an meinen Zähnen entlang und fühlte dabei, wie die scharfen Spitzen meiner Eckzähne über ihre Oberfläche kratzten. Wie dumm war ich gewesen, die Leichen meiner Opfer Nacht für Nacht einfach liegen zu lassen, ohne darüber nachzudenken, was die Menschen daraus für Schlüsse ziehen würden, sobald sie sie gefunden hatten! Ich muss zwar zugeben, dass mir dieser Umstand bis vor zwei Nächten noch völlig gleichgültig gewesen war, aber jetzt bereute ich meine Nachlässigkeit dafür umso mehr, denn sie führte nun dazu, dass ich mich noch besser vorsehen musste, unerkannt zu bleiben.
`Die Opfer wurden obduziert...´ Ulrichs unheilschwangere Stimme riss mich aus meinen Gedanken. `Es heißt, dass sie allesamt völlig blutleer gewesen sind... Der Dämon, er trinkt das Blut dieser armen Menschen und mit ihm ihre Seelen. Es heißt, es sei ein Vampir.´
Ich schwieg.
Vampir... Dieses Wort schwebte in der Luft wie ein Gespenst: durchscheinend, formlos, unfassbar. Das also war der Name für ein Wesen wie mich: Vampir...
Ich formulierte diesen Begriff langsam in Gedanken und plötzlich fühlte ich mich anders. Meine Oberschenkel unter meinen Händen, meine Brust, die sich mit jedem Atemzug hob und senkte, mein Gesicht, über dessen Wangen die kalte Nachtluft strich, meine Haare, an denen der Fahrtwind zerrte, alles fühlte sich auf einmal anders an. Ich war ein Vampir! Und die Menschen hatten Angst vor mir. Solch eine Angst, dass sie sich des Nachts kaum nach draußen wagten...
`Weiß man denn, wie so ein... Vampir ... aussieht?´, fragte ich schließlich fast mechanisch, ohne Ulrich dabei anzusehen, wobei dieses Wort mir seltsam fremd vorkam, als ich es zum ersten Mal selbst laut aussprach. Für einen fast unangenehmen Moment lang spürte ich den nachdenklichen Blick des Kutschers auf meinem Profil ruhen, bevor er sich wieder auf die Rücken der Pferde richtete.
`Ich habe zahlreiche, zum Teil hanebüchene Zeichnungen gesehen, doch keine ähnelt der anderen... Nein, ich glaube, man weiß nicht, wie diese Kreatur wirklich aussieht.´
Kreatur...
Plötzlich war mir nicht mehr nach einem Gespräch zumute. Daher nickte ich bloß und starrte in die Dunkelheit zu meiner Seite. Ulrich, der meine unvermittelte Schweigsamkeit freundlicherweise ohne Frage zur Kenntnis nahm, auch wenn er sie sicherlich gänzlich falsch deutete, schien wenig später ebenfalls in seine eigene Gedankenwelt abzutauchen, sodass wir eine Weile stumm des Weges fuhren, der uns inzwischen ein kurzes Stück durch den Wald führte.
Der Mond schien zwar hell, doch wir hatten zusätzlich die Lampen beidseits des Kutschbocks entzündet und schaukelten nun, begleitet von geisterhaft zuckenden Schatten, zwischen den eng stehenden Bäumen dahin. Ich hatte bei diesem Wegesabschnitt von Anfang an kein gutes Gefühl gehabt, doch nun spürte ich, wie sich eine unbestimmbare Unruhe unter meiner Haut auszubreiten begann und meine Aufmerksamkeit wieder nach außen lenkte. Alarmiert sondierte ich meine Umgebung aus den Augenwinkeln. Dabei bezog ich auch Geräusche und Gerüche mit ein.
Währenddessen mochte ich äußerlich zwar völlig arglos erscheinen, doch Ulrich, der Seite an Seite mit mir auf dem Bock saß, konnte meine körperliche Anspannung dennoch spüren. Ängstlich sah er mich an.
`Der Dämon?´, fragte er flüsternd.
Ich schüttelte kaum sichtbar den Kopf und bedeutete ihm mit meinem Finger vor den Lippen, still zu sein.
Da war etwas. Ein Geräusch.
Für einen Augenblick schloss ich meine Augen, um noch besser in die Nacht hinein lauschen zu können. Und da war es wieder. Diesmal allerdings mit solcher Deutlichkeit, dass ich nicht länger zweifelte, was ich zu tun hatte.
`Darf ich?´, fragte ich Ulrich daher leise und nahm ihm dabei, ohne auf seine Antwort zu warten, die Zügel aus der Hand. Von den Umständen eingeschüchtert, ließ er mich freizügig gewähren.
Zunächst behielt ich die Geschwindigkeit, mit der die Pferde vorantrabten, unverändert bei. Doch als wir uns endlich jener Stelle näherten, die zu umgehen zwar das Beste gewesen wäre, wozu uns aber keine Möglichkeit mehr blieb, schlug ich plötzlich peitschend mit den Zügeln auf die Rücken der Tiere. Erschrocken wiehernd warfen sie ihre Köpfe hoch und galoppierten fluchtartig los. Dabei hoffte ich, dass zum einen der Überraschungsmoment und zum anderen die Geschwindigkeit der Kutsche uns freies Geleit ermöglichen würden. Doch leider irrte ich mich da.
Todesmutig sprangen zwei Männer auf den Pfad, einer davon hielt eine Fackel in der Hand. Die Pferde scheuten ob des plötzlichen Hindernisses, das da vor ihnen auftauchte. Abrupt blieben sie stehen und bäumten sich auf, sodass ich schon befürchtete, sie könnten uns im nächsten Moment durchgehen und die Kutsche zu Boden reißen. Aber bevor es noch dazu kommen konnte, griffen die Männer bereits beherzt in das Zaumzeug und zwangen die panischen Gäule zur Ruhe.
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