Nervös hielt ich inne. Hatte der Geistliche mich etwa durchschaut? Hatte er den Blick des Jungen vorhin gesehen und den richtigen Schluss daraus gezogen? Oder hatte der Junge ihm gar hinter meinem Rücken ein Zeichen gegeben?
`Fragen Sie´, erlaubte ich ihm schließlich widerstrebend, fest entschlossen, mir dennoch nichts anmerken zu lassen.
`Gab es Hinweise darauf, wie die Eltern zu Tode gekommen sind?´
Mir wurde zunehmend unbehaglich zu Mute. Was sollte ich dem Mönch antworten? Ich warf einen flüchtigen Blick auf den Jungen, der unser Gespräch aufmerksam verfolgte. Glücklicherweise blieb er still, so dass ich mich beeilte, eine Antwort zu liefern, bevor er mir noch dazwischen kommen und mich in ernsthafte Schwierigkeiten bringen konnte.
`Sie waren schwer verletzt, so dass ich beinahe von einem Mord ausgehen würde. Mehr jedoch kann ich nicht dazu sagen... Warum aber wollt Ihr das wissen? Sicher wird sich die örtliche Polizei darum kümmern...´
Der Mönch zuckte mit den Schultern und winkte ab.
`Reine Neugier... Es ist gut, wenn man Antworten für fragende Kinder hat.´ Dabei lächelte er freundlich, trat an mir vorbei auf das Pferd zu und streckte seine Hände nach dem Mädchen aus.
`Dann steigt einmal von eurem Pferd´, sprach er zu den Kindern und hob das Mädchen hinunter, derweil ich vor Erleichterung am liebsten laut geseufzt hätte.
`Ich werde euch ein Bett zeigen, wo ihr schlafen könnt; und wenn ihr noch hungrig seid, habe ich auch ein Stück Brot für euch.´
Der Mönch setzte das Mädchen behutsam auf dem Boden ab, doch müde, wie sie war, stand sie nach dem stundenlangen Ritt nur sehr wacklig auf den Beinen, sodass er sie direkt wieder auf seinen Arm nahm. Daher ging ich zu dem Pferd und wollte dem Jungen herunter zu helfen. Ich hielt ihm meine Arme entgegen, doch er ignorierte diese Geste glatt und sprang ohne meine Hilfe ab. Schnurstracks lief er an mir vorbei auf den Mönch zu, ohne mich dabei eines Blickes zu würdigen.
`He´, rief ich ihm nach, worauf er sich umdrehte und mich verächtlich ansah. Ich trat auf ihn zu und beugte mich zu ihm herunter, bis wir auf gleicher Augenhöhe waren.
`Wie heißt du?´
Ich kann nicht genau erklären, warum mir diese Frage in diesem Moment so wichtig war. Vielleicht wollte ich dem Jungen damit mein Wohlwollen demonstrieren und eine Art Frieden schließen. Vielleicht aber wollte ich auch nur einen Namen für das Grauen haben, das ich in meiner ersten Nacht als Dämon angerichtet hatte.
`Jonathan´, antwortete er knapp und dann setzte er mit hasserfüllter Stimme nach: `Merke dir den Namen gut, denn eines Tages werde ich meine Eltern rächen und dich töten!´
Als hätte Jonathan mir soeben eine Ohrfeige verpasst, zuckte ich vor ihm zurück. Bisher hatte er zwar stets geschwiegen, aber natürlich hatte er alles genau beobachtet. Er war alt genug, zu verstehen, welch Ungeheuer ich war, und jung genug, um an solche zu glauben...
Ich bemerkte, dass der Mönch unser kleines Gespräch aufmerksam verfolgt hatte. Rasch richtete ich mich daher wieder auf und lächelte nachsichtig.
`Er ist verstört und müde... Ich bin froh, dass die Kinder nun in Ihrer gütigen Obhut sind. Vielen Dank!´
Bei diesen Worten verbeugte ich mich kurz, wünschte den Kindern noch Lebewohl und verließ schließlich zügig das Kloster, bevor es noch zu irgendwelchen ungewollten Verwicklungen kommen konnte.
Außerdem war da noch eine Angelegenheit, die ich in dieser Nacht abzuschließen beabsichtigte.
So schnell ich konnte - und das war zu meinem eigenen Erstaunen sehr schnell - lief ich zurück zu dem nun verwaisten Hof. Schon weit vor der Hütte kroch der üble Geruch nach Verwesung in meine empfindliche Nase, sodass es mich Überwindung kostete, mich ihm noch weiter zu nähern. Ich dachte sogar für einen Moment darüber nach, einfach von meinem Plan abzulassen, doch schließlich nahm ich mich zusammen, ging auf die Hütte zu und öffnete die Tür.
Das Surren aufgeschreckter Fliegen erfüllte den Raum, als ich eintrat, und ein furchtbares Ekelgefühl ließ mich zunächst für einen Moment lang innehalten. Sobald es wieder etwas abgeklungen war, sammelte ich eilig sämtliches brennbares Zeug zusammen und warf es über die inzwischen fleckig gewordenen Leichen. Dabei versuchte ich, so wenig wie möglich zu atmen, um mich diesem schrecklichen Gestank weitestgehend zu entziehen. Zuletzt griff ich mir einen Fetzen Stoff, hielt ihn in die zum Glück noch schwach glimmende Glut der Kochstelle und schleuderte ihn, sobald er Feuer gefangen hatte, auf den zusammengetragenen Haufen, welcher daraufhin innerhalb kürzester Zeit in Flammen stand. Hungrig knisternd breiteten sie sich zu allen Seiten hin aus, in der unerschütterlichen Absicht, die Hütte sogleich mit Haut und Haaren aufzufressen.
Schnell rannte ich hinaus, um aus sicherer Entfernung fasziniert zu beobachten, wie innerhalb weniger Augenblicke die gesamte Hütte lichterloh brannte. Rotgoldene Funken stoben, gejagt von laut knallenden Schlägen wie aufgeregte Glühwürmchen in die Höhe, wurden dort unverwandt von einem Windstoß erfasst und ein Stück davongetragen bis sie schließlich noch im Fluge auf immer erloschen.
Jetzt erst, in dem zuckenden Schein des lodernden Feuers, begriff ich, dass mein altes Leben wohl unwiederbringlich verloren war. Langsam begann ich das Ausmaß meiner Veränderung zu begreifen, die sich erst vor einer Nacht in jener Höhle ereignet und doch so fulminant in mein Leben eingegriffen hatte. Ich dachte an meine neuen Kräfte und Sinnesgaben, ebenso wie an meine seltsamen Fangzähne, die mir gewachsen waren; an das Blut, nach dem ich mich seither verzehrte; an den Dolch, der mich nicht töten konnte sowie die Wunden, die unmittelbar wieder verheilten; an den totenähnlichen Schlaf, der mich am Tage ereilte; an die Sonne, die mich verbrannt hatte. Und ich stellte mir die Frage, mit welchen Veränderungen ich noch rechnen musste. Der Glaube, bloß von einer vorübergehenden Krankheit befallen zu sein, begann langsam, wie das zu Asche verbrannte Holz vor mir zu zerfallen und zunehmend der Gewissheit zu weichen, dass eine Verwandlung mit mir vorgegangen sein musste, die nicht mehr rückgängig zu machen war.
Zu was aber war ich nun geworden? Gab es einen Namen für das, was ich jetzt war? Gab es jemanden, der genauso war wie ich?
Ich schaute hinauf in den Himmel, der von Qualm und langsam heraufziehenden Wolken zugedeckt wurde. Gab es dort oben wirklich einen Gott, der mich sehen konnte? Und wenn ja, was für Schlüsse und Konsequenzen würde er mir und insbesondere meinen Taten gegenüber ziehen?
Ich kann nicht beschreiben, wie verloren ich mich in diesem Moment fühlte. Eine gähnende Leere begann in meinem Bauch zu keimen, die in rasender Geschwindigkeit Wurzeln in meine Seele schlug und zu einem riesigen Baum aus Verzweiflung und Traurigkeit heranwuchs. Wohin sollte ich denn nun gehen? Wo gehörte ich hin? Könnte ich trotz allem mein Leben einfach so fortführen wie bisher?
Während ich noch dort mitten auf dem Feld auf dem Boden hockte und, versunken in den Anblick der ersterbenden Flammen, meinen trüben Gedanken nachhing, hatte ich dummerweise völlig vergessen, auf die Dämmerung zu achten. Ich hatte zwar schon seit einer Weile die langsam aufsteigende, zunehmend lähmende Müdigkeit gespürt. Doch erst jetzt erkannte ich, dass sie bereits der Vorbote des bevorstehenden Sonnenaufgangs gewesen war, der sich nun am Horizont abzuzeichnen begann und mich warnte, mich schnellstens in Sicherheit zu bringen.
Zu Tode erschrocken sprang ich auf und sah mich um. Vor mir lagen verbrannter Schutt und glühende Asche. Darüber hinaus gab es bloß noch Feld und Wiese weit und breit. Nirgends fand sich auch nur der Lichtblick eines Verstecks für mich.
Mein Herz begann unvermittelt zu rasen und ich drehte mich hastig im Kreis, in der Hoffnung, doch noch irgendetwas zu entdecken, was mir womöglich weiterhelfen konnte. Doch es gab nichts!
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