1 ...6 7 8 10 11 12 ...27 Das alles klang so unterwürfig und beinahe ängstlich, dass in Arian erneut Zorn aufwallte, obwohl er die Worte mittlerweile auswendig kannte.
Was brachte seinen Bruder zu einer derartigen Wortwahl? Er war nie demütig gewesen, sondern immer stolz und aufrecht. War es eine Finte, um ihn nach Silkarnon zurück zu locken? Wenn ja, dann war sie erbärmlich und seines Bruders nicht würdig.
Mit einem unmutigen Laut warf er den Streifen auf den Tisch. Sollte er diesem Geschwätz nachgehen oder steckte etwas anderes dahinter? Er wusste nicht, was sich auf Silkarnon, dem Sitz seines Bruders, abspielte, aus dem einfachen Grund, weil er seit drei Sonnenumläufen nicht mehr dort gewesen war. Dunkel erinnerte er sich, dass Ifan vor kurzem wieder eine Gefährtin genommen hatte, aber er wusste nicht einmal ihren Namen. Er war der Vermählung trotz wiederholter Bitten Ifans ferngeblieben, weil er es für besser erachtet hatte, die Feierlichkeit durch seine Anwesenheit nicht zu stören. Seine Schroffheit hatte den Jüngeren gekränkt, dessen war Arian sich bewusst. Aber es war besser so. Er brachte nur Unruhe und Schmerz über alle, die ihm nahestanden. Und daran war nur SIE schuld.
Dumpfer Schmerz wallte in ihm auf, aber es war nur ein fernes Echo der Qualen, die er hatte erleiden müssen. Er war auf immer ein Gezeichneter. Warum hatte er SIE nicht besiegen können? Warum hatte er nicht sterben dürfen? Es war, als prüfe ihn eine höhere Macht, als wäre er ein Werkzeug in einem Spiel, das er nicht durchschaute.
Unwillkürlich legte er die Hand wieder auf sein Herz, als wolle er sich vergewissern, dass sich nichts geändert hatte. Deutlich spürte er die kalte Stelle, dort, wo SIE ihm ihr Vermächtnis eingepflanzt hatte. Die Schwarze. Seine Todfeindin. Nichts konnte diese Kälte vertreiben, sie saß tief in ihm, verhöhnte und ängstigte ihn zugleich.
Er zuckte zusammen, als Eway die Bibliothek betrat. Er bemühte sich immer, dem alten Mann seine Schwäche nicht zu zeigen, aber dieser wusste bestimmt auch so, wie es um ihn stand. Oder ahnte es zumindest. Dass er nicht mehr Herr über sich war, dass ein fremdes Wesen in ihm wohnte.
Eway tat, als bemerke er Arians Hand nicht, die noch immer auf seiner Brust lag. Er hatte seinen Herrn schon so oft bei dieser Geste überrascht, dass er nicht mehr darauf achtete. Allerdings ruhte sein Blick auf dem Pergamentstreifen auf dem Tisch. „Wünscht Ihr einen Schlaftrunk, Euer Hochwohlgeboren?“
Arian seufzte, insgeheim froh darüber, dass Eway die Botschaft nicht mehr zur Sprache brachte. Aber er hatte ohnehin alles gesagt, was es zu sagen gab. „Ja, stell ihn an mein Bett. Aber erst später. Ich werde noch ein wenig lesen.“
Eway nickte. Es war das tägliche abendliche Ritual.
Sein Vertrauter zog sich leise zurück und überließ Arian wieder der allumfassenden Stille, die in diesen Mauern herrschte.
Er trat auf ein Regal mit unzähligen Pergamentrollen zu. Sein Blick fuhr suchend über die Schilder, die an den Fächern angebracht waren. Er selbst sorgte für penible Ordnung in seinen Unterlagen, also fand er schnell, was er brauchte. Er zog die Rolle aus dem Fach, breitete sie auf dem Tisch aus und beschwerte sie an jeder Ecke mit Büchern.
Sein Finger fuhr über die rote, gestrichelte Linie, welche die Provinzen Sardaryon und Ladarnon von Mardonnon trennte. Der magische Wall, den seine Vorväter am Ende der Großen Kriege zum Schutz gegen das Heer der Schwarzen errichtet hatten und den sein Vater, Arcsardar Rynwed de Gordaw, vollendet hatte. Wie immer widerstrebte es ihm, den Namen seiner größten Feindin auch nur zu denken.
Dieser Wall verhinderte seit einigen Menschenleben, dass SIE erneut über die wehrlosen Bewohner der beiden Provinzen herfallen konnte. Nicht, dass SIE dazu derzeit in der Lage gewesen wäre, denn …
Seine Gedanken stoppten abrupt, errichteten eine Barriere. Es wäre ein leichtes gewesen, den Schutzwall aus der Ferne zu prüfen, aber dazu hätte er sein Licht einsetzen müssen und es war besser, keine Aufmerksamkeit zu erregen und die Schwarze nicht zu wecken. Denn wer wusste schon, wozu SIE selbst in ihrem geschwächten Zustand fähig war. Davon abgesehen, weigerte sich etwas in ihm, seine Gabe anzuwenden. Ausflüchte – natürlich!
Er prüfte aufmerksam die Karte. Es war unvorstellbar, dass die schwarzen Schatten die glühend heiße Ebene von Flint durchquert und sich so weit nach Norden gewagt hatten. Es sei denn, sie hatten sich entlang des Gebirges bewegt. Das Dorf, von dem sein Bruder berichtet hatte, hieß Halin’Din und befand sich in der Nähe der Grenze zur Provinz Sardaryon.
Ein kaltes Prickeln überlief ihn. So nah? Hieß das, dass SIE erneut ihre tödlichen Fühler nach ihm ausstreckte? Nein, das war doch nicht möglich! Er hätte spüren müssen, wenn SIE an Kraft gewann, oder etwa nicht? Es mochte sein, dass SIE zu geschwächt war, um ihre Diener in ihrem Bann zu halten, aber warum kamen sie erst jetzt?
Vielleicht hätte er doch nicht so restlos seiner Gabe entsagen und sich hier auf Colheldon vergraben sollen. Ein kurzsichtiges und wenig mutiges Verhalten. Eway hatte ihn zu Recht getadelt. Aber was hätte er auch tun sollen? Er konnte der Schwarzen nicht gegenübertreten, er war viel zu schwach dazu.
Er stieß einen tiefen Seufzer aus. Ein Aufschub, mehr nicht. Der Tag würde kommen, an dem er sich ihr erneut stellen musste und diesen Tag sollte er bestimmen, nicht SIE.
Er musste eine Entscheidung treffen. Es wurde Zeit, zu handeln und sich nicht länger in der Abgeschiedenheit zu verkriechen. Ein Schauder überlief ihn bei dem Gedanken, dass er diese drei Sonnenumläufe nur in trügerischer Sicherheit gelebt hatte. SIE war noch immer da und wartete auf ihn, plante womöglich schon ihre nächste Schandtat. Vielleicht war SIE gar nicht so geschwächt, wie er glaubte?
„Eway?“
Der alte Mann betrat einen Augenblick später den Raum. „Ja, Euer Hochwohlgeboren?“
„Heute kein Schlaftrunk. Sattle bei Sonnenaufgang Sylhyan. Ich werde nach Silkarnon reisen.“
Das Surren der Nähmaschine erfüllte das kleine Wohnzimmer. Sheila arbeitete an der Fertigstellung der roten Chiffonrobe.
Carys nahm das Geräusch nur gedämpft wahr. Sie hatte Kopfhörer aufgesetzt und hörte The Kingsmen. Nachdem Sheila sich über ihren Musikgeschmack entsetzt hatte – „WAAS? Folk Music? Das gibt’s doch nicht! Das ist doch was für alte Leute!“ – wollte sie ihre Freundin nicht damit belästigen. Aber sie liebte nun einmal die traditionellen Lieder und sang auch gelegentlich in einem Chor mit. Wenn sie in Stimmung war, komponierte sie auch selbst einfache Songs.
Sie blätterte im Skript für das neue Stück. Zwar sollten die Aufführungen im Globe erst im März nach der Winterpause starten, aber sie musste sich schon früh genug Gedanken über die Charaktere machen. Es sollte eine Art Persiflage auf Romeo und Julia sein, die in den 1990-igern spielte. Die Hauptrolle würde Peggy Smithers übernehmen, eine zart gebaute, groß gewachsene Blondine, die bestimmt keine schüchterne, unerfahrene Julia sein würde.
Romeo als Yuppie, kein Gifttrank, sondern Kokain.
Die Herstellung der Kostüme würde kein großes Problem sein, Alltagskleidung, Anzug, Jeans und T-Shirt. Bauchfrei womöglich, das war zu dieser Zeit der letzte Schrei gewesen.
Mit einem Seufzer legte Carys das Manuskript zur Seite. Sie bevorzugte die klassischen Aufführungen mit den elisabethanischen Kostümen, wo sie sich so richtig austoben und in Samt und Spitzen schwelgen konnte.
Sie warf einen Seitenblick auf Sheila, die keine Notiz von ihr nahm und sich konzentriert über die Nähmaschine beugte. Vielleicht war jetzt der richtige Zeitpunkt, um ihr unverhofftes Schnäppchen vom Vormittag genauer unter die Lupe zu nehmen. Sie holte die Tasche, in die sie es gesteckt hatte, aus der Garderobe und zog sich in ihr Schlafzimmer zurück.
Читать дальше