Eine Gänsehaut rieselte über Arians Rücken, als ihm die Worte seines Vaters in den Sinn kamen. Er kannte sie beinahe auswendig, so oft hatte er sie gelesen. Auch wenn sie niemals das zu beschreiben vermochten, was er selbst gesehen hatte.
Er drehte sich um, betrachtete das gepflegte Geviert des Burggartens, die einzige Fläche, die auf Colheldon noch bebaut wurde. Hier zog sein Vertrauter Eway das Gemüse und die Kräuter für die Küche. An der Mauerseite zu seiner Linken wuchsen die weißen Lilien von Colheldon, die Wappenblume der de Gordaws. Ihr angenehm frischer Duft drang in seine Nase und für einen Moment wurde sein Herz weit.
Ein bitteres Lächeln huschte über seine Züge. Diese Blumen waren – wie alles in Colheldon - nur eine Erinnerung an glanzvolle Zeiten. Die einstmals so stolze Festung war nutzlos geworden. Ein trauriges Denkmal vergangener Größe. Manchmal hatte er Angst, sich in diesen weitläufigen Mauern zu verlieren, aber wenigstens quälten ihn die Seelen der Verlorenen nicht. Colheldon war nie von den Armeen der Schwarzen erobert worden, hier lagerten nur die Erinnerungen an ferne Jugendzeit und glücklichere Tage in den grauen Steinen. Vielleicht hatte er deshalb genau hier Zuflucht gesucht und gefunden.
Ein leises Geräusch ließ ihn zusammenzucken. Er wandte sich mit einer fließenden Bewegung um, aber es war nur Eway, der durch die offene Tür in den Garten getreten war.
„Das Abendessen ist angerichtet, Euer Hochwohlgeboren.“ Der alte Mann warf ihm einen forschenden Blick zu. Seit Arians Rückkehr nach Colheldon vor – war das wirklich schon drei Sonnenumläufe her? - tat er das oft, wie um zu erkunden, ob sein Herr auch wohlauf war. Kein Wunder, Eway hatte Schreckliches gesehen und würde das, genau wie er selbst, niemals vergessen.
Arian nickte nur. Er fröstelte, als eine kühle Brise seine Haut streifte und legte unwillkürlich die Hand auf sein Herz. Eway bemerkte es und Arian nahm die Hand rasch weg.
Sein Vertrauter drehte sich wortlos um und wartete an der Tür auf ihn. Arian betrat vor ihm das Gebäude. Es war ein Anbau an die Außenmauer der Burg, ursprünglich das Wohnhaus für den Gärtner. Sogleich hüllte ihn behagliche Wärme und weicher Kerzenschein ein. Eway hatte wie jeden Abend die großen Leuchter entzündet, ihr Licht flutete den Raum, der mit einfachen Möbeln aus dem Holz der Rothanos bestückt war. Ihr Duft vermischte sich mit dem des Kerzenwachses.
Er durchquerte das Zimmer und betrat den angrenzenden Raum, der als sein Esszimmer diente. Der Fürst von Colheldon bewohnte nicht mehr als ein Dienstbotenquartier, aber es brauchte nichts weiter für ihn und seinen Bediensteten.
Das Abendessen stand auf dem Tisch, eine bescheidene Mahlzeit aus gekochtem Gemüse und etwas Getreidebrei. Zwei Stühle und ein Geschirrschrank bildeten die weitere Einrichtung.
Eway schloss sorgfältig die schweren Vorhänge, um die Dunkelheit auszuschließen und Arian fühlte einen Moment fast so etwas wie Geborgenheit. Eingehüllt in Wärme und Licht.
Natürlich war das nur eine Täuschung.
Er aß wortlos und geistesabwesend. Eway schenkte schweigend das Wasser, das er zuvor vom Brunnen geholt hatte, in einen Becher. Der alte Mann diente den de Gordaws seit ewigen Zeiten und war Zeuge ihres Glücks und vor allem ihres Unglücks gewesen. Ein verlässlicher Anker in der wilden Brandung des Schicksals, ein schweigsamer und mitfühlender Untergebener. Der einzige, der geblieben war.
Arian beendete sein Mahl und wollte sich gerade erheben, als Eway sich räusperte. „Ihr habt heute eine Botschaft erhalten“, sagte er leise.
Arian zuckte zusammen. Er hatte befürchtet, dass Eway die Sprache darauf bringen würde, hatte er sie doch selbst dem Falken abgenommen.
„Sie ist von Eurem Bruder, nicht wahr? Werdet Ihr ihm antworten?“
Arian wurde von einem Schwall an Gefühlen überschwemmt. Trauer, Sorge, Wut, Verwirrung. Er konnte für einen Moment nicht unterscheiden, ob es seine eigenen oder die seines Vertrauten waren. Er sah Eway an. Der alte Mann erwiderte seinen Blick ruhig. „Ihr müsst ihm antworten. Er ist Euer einziger Verwandter.“
„Das weiß ich selbst.“ Arian kämpfte noch immer mit seiner Fassung. Er blinzelte, um das Brennen in seinen Augen zu vertreiben. „Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich es tun sollte.“
Eway schnaubte. „Das meint Ihr nicht ernst, oder?“ Er straffte sich und in seinem Blick lag eine Mischung von Achtung und Zorn. „Ich sehe Euch jetzt seit drei Sonnenumläufen zu, wie Ihr Euch quält. Meint Ihr nicht, es wäre endlich an der Zeit, die Vergangenheit ruhen zu lassen und die Hand zur Versöhnung auszustrecken?“
Arian fuhr auf. „Darum geht es nicht! Das weißt du ganz genau!“
„Ach? Worum dann? Ja, Ihr seid verletzt worden, Ihr habt schreckliche Wunden erlitten, aber das war doch nicht die Schuld Eures Bruders! Außerdem habt Ihr Verpflichtungen – nicht nur ihm gegenüber!“
„Verpflichtungen?“ Arian lachte bitter. „Ja, natürlich. Das hätte ich beinahe vergessen. Ich bin der letzte Wächter des Lichts, der Heilsbringer. Nur dass ich das nicht sein will und auch nicht sein kann. Nie wieder. Verstehst du das nicht?“
„Nein. Ich sehe im Augenblick nur einen Mann, der sich in Selbstmitleid suhlt“, sagte Eway trocken.
Arian schnappte nach Luft. „Das … das ist Unsinn!“
Eway sah ihn schweigend an, nicht im Geringsten erschrocken über seine Unbotmäßigkeit und Arian musste sich eingestehen, dass er recht hatte. Er stand mit einem Ruck auf. „Ich werde es mir überlegen“, sagte er schroff.
Eway nickte. „Tut das. Aber nicht zu lange. Der Falke möchte wieder nach Hause.“
Arian kehrte in die Bibliothek zurück, in der er, ungeachtet des schönen Sommerwetters, den größten Teil des Tages verbracht hatte. Im Kamin brannte bereits Feuer, das die Kälte der Nacht mildern sollte. Auf dem Schreibtisch stand ein Kelch mit gewürztem Wein, wie jeden Abend.
Eway würde jetzt seine Mahlzeit zu sich nehmen. Er aß nie in Gegenwart seines Herrn, eine Angewohnheit, die er niemals ablegen würde.
Arian nahm einen Schluck aus dem Kelch und hob den Pergamentstreifen auf, der auf seinem Schreibtisch lag. Vielleicht zum hundertsten Mal las er die eng geschriebenen Zeilen, die ihm am Morgen der gezähmte Falke gebracht hatte.
An den Hochwohlgeborenen Arcsardar, Großfürst von Sardaryon, Fürst zu Colheldon, Arian de Gordaw. So lautete die offizielle Anrede für ihn und dagegen war eigentlich nichts einzuwenden. Wäre der Absender nicht Ifan de Gordaw, Großfürst von Ladarnon und Fürst zu Silkarnon, gewesen. Sein jüngerer und einziger Bruder, genauer gesagt, sein Halbbruder. Ifan, mit dem er hier auf Colheldon seine Kindheit verbracht hatte, der stets beim Ballspiel gewann, der mit seinem strahlenden Wesen alle bezauberte und der ihm immer in aufrichtiger Liebe zugetan gewesen war.
Er hätte sich über das Lebenszeichen Ifans freuen können, aber es erfüllte ihn mit Wehmut. Wo war die Vertrautheit zwischen ihnen geblieben? Wann hatten sie sich dermaßen entfremdet, dass sein Bruder an ihn schrieb, als sei er einer seiner untergebenen Landesfürsten?
Arian seufzte unwillkürlich. Natürlich hätte er die Antwort geben können, aber es widerstrebte ihm, darüber nachzudenken. All das war viel zu schmerzlich.
Seine Blicke flogen über die Zeilen in akkurater Schönschrift. Ifan berichtete von einem Vorfall an der Grenze zur Provinz Mardonnon, der ihn beunruhigte. Es schien, als wäre ein Dorf von den saugenden Schatten, den Orrmoks, überfallen worden. Er wisse noch nicht, wie viele Opfer zu beklagen seien, aber es wären hauptsächlich Rinder abhandengekommen. Er nähme an, dass der Schutzwall beschädigt sein müsse, denn sonst hätten die Diener der Schwarzen die Provinz Ladarnon nicht heimsuchen können. All das klang sehr vage. Am Ende die zaghafte Bitte, Arian möge ihm einen Besuch abstatten und sich selbst von der Lage der Dinge überzeugen, auch wenn dieser Vorfall vielleicht viel zu wenig bedeutend sei, um seine Aufmerksamkeit zu fordern.
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