Gleich darauf war er umringt von staunenden Dienstboten, die ehrfürchtig mit gesenktem Kopf in die Knie gingen. Er hob die Hand, hielt sie über die Köpfe. „Heldon segne euch“. Dann winkte er einem Stallburschen, um ihm Sylhyans Zügel zu übergeben. „Er braucht nur Wasser und ein wenig Hafer. Führe ihn in eine ruhige Ecke des Stalls“, sagte er knapp. Der Bursche betrachtete das Windpferd staunend und nickte stumm, befolgte aber den Befehl und brachte Sylhyan zu den Ställen.
Arian ging mit weit ausgreifenden Schritten auf die Treppe des Hauptgebäudes zu.
Am Tor wurde er vom Haushofmeister empfangen, einem wichtig aussehenden Mann, der die Tracht Silkarnons trug – ein dunkelblaues Wams mit goldenen Knöpfen, dazu schwarze Hosen und das weiße Barrett, auf dem das Wappen der Burg prangte. Ein weißer Schwan auf grünem Grund, darunter zwei gekreuzte, goldene Ähren.
„Wen darf ich …? Oh, Euer Hochwohlgeboren …“ Der Mann riss Augen und Mund auf und vergaß, letzteren wieder zuzuklappen.
Arian hob grüßend die Hand. „Ich nehme an, der Herr von Silkarnon wird zu sprechen sein.“ Er trat durch das Tor in die Große Halle. Ein flüchtiger Blick sagte ihm, dass sich auch hier nichts verändert hatte. Der hohe, lichtdurchflutete Raum wurde von drei riesigen Kronleuchtern beherrscht, dessen Kerzen allerdings nur bei größeren Festlichkeiten entzündet wurden. Die Abendlaternen, in regelmäßigen Abständen an den Wänden angebracht, waren noch nicht erleuchtet.
„Ja, ja natürlich, Euer Hochwohlgeboren.“ Der Haushofmeister beeilte sich, mit ihm Schritt zu halten. „Es ist mir eine Ehre, Euch anzumelden.“
Arian wedelte mit der Hand. „Das ist nicht nötig. Sagt mir nur, wo er sich aufhält.“
„Um diese Zeit wird er noch im Arbeitszimmer sein, Euer Hochwohlgeboren.“
„Gut. Ihr habt sicher wichtigere Aufgaben als mich zu begleiten. Ich kenne den Weg.“ Und damit ließ er den sichtlich verblüfften Mann einfach stehen.
Arian durchquerte die Halle, ohne weiter auf seine Umgebung zu achten und betrat den Gang, der um den Innenhof verlief. Er blieb kurz stehen. Das Licht der tief stehenden Sonne, das durch die hohen Spitzbogenfenster fiel, warf helle Streifen an die weißen Wände und blendete ihn. Er wandte sich nach rechts, eilte an etlichen Türen aus dunklem Holz vorbei, ehe er innehielt und anklopfte.
Erinnerungen aus seiner Jugendzeit überfluteten Arian, als er das Gemach betrat. Der vertraute Geruch nach Papier und Leder drang in seine Nase und kurz glaubte er, das herb-holzige Aroma des Pfeifentabaks zu riechen, das untrennbar mit der Person seines Halbonkels und Vormunds verbunden war.
Das Zimmer lag im Schatten, auch hier waren die Kerzen noch nicht entzündet worden.
Der Mann, der am Schreibtisch saß, hatte bei seinem Eintreten überrascht den Kopf gehoben.
„Arian?“
Er ging auf seinen Bruder zu. Ifan hatte sich verändert, er sah älter und reifer aus. Sein Haar trug er nicht mehr offen, sondern hatte es im Nacken mit einem Band zusammengefasst. Ifan war aufgestanden, machte aber keine Anstalten, sich ihm zu nähern und senkte den Kopf. „Verzeiht, Euer Hochwohlgeboren. Ich grüße Euch.“
„Was soll das bedeuten? Ich bin dein Bruder, also kannst du auf diese Floskeln verzichten!“
Ifan zuckte zusammen und wurde blass. Noch immer vermied er es, Arian ins Gesicht zu sehen. „Du hast mir damals sehr deutlich zu verstehen gegeben, dass du nichts mehr von mir wissen willst“, sagte er schließlich mit gepresster Stimme.
Schlagartig war Arians Zorn verpufft. „So hast du das also aufgefasst. Das tut mir leid, ich meinte es nicht so. Ich war – nicht ich selbst.“ Und bin es noch immer nicht , fügte er in Gedanken hinzu. Aber das ist nicht deine Schuld, mein Bruder.
Er versuchte ein Lächeln, streckte die Hand aus.
Ifan zögerte kurz, dann hob er den Kopf, blickte ihn an und ergriff Arians Rechte. „Du siehst gut aus. Besser als – damals.“
„Danke für die barmherzige Lüge.“ Arian musterte ihn aufmerksam. Dass auch Ifan Sorgen hatte, war nicht zu übersehen.
„Setz dich doch.“ Sein jüngerer Bruder wies mit einer Handbewegung auf einen Stuhl. Er ging zum Schrank, öffnete ein Fach und holte eine Flasche mit zwei Gläsern heraus.
„Noch immer der Rotwein aus Selinnark?“
Ifan lächelte. „Ja. Manches ändert sich zum Glück nicht.“ Er schenkte die rubinrote Flüssigkeit ein und bot Arian ein Glas an. Der nahm es und setzte sich auf den Stuhl, seinem Bruder gegenüber. Er nippte, die herb-süße Flüssigkeit rann durch seine Kehle, sammelte sich in seinem Magen und begann eine beruhigende Wärme auszustrahlen. Er seufzte tief und strich sich mit der Hand durch das Haar.
„Du hast mir eine sehr verwirrende Botschaft gesandt, Bruderherz.“
Ifan sah ihn überrascht und ein wenig verlegen an. Er betrachtete den Wein in seinem Glas und trank bedächtig. „Ich muss zugeben, dass mir etwas – unwohl war, als ich den Falken mit der Botschaft lossandte.“
„Unwohl? Wie das?“
Der Jüngere seufzte. „Dumme Sorgen eines Burgherrn. Zu viel Wein, zu fettes Essen. Solche Dinge eben.“
Von denen du nichts weißt. Der Satz lag in der Luft, aber keiner der beiden Männer sprach ihn aus. Die tiefe Kluft zwischen ihnen war auch so fühlbar.
„Das sind Ausflüchte“, sagte Arian ruhig. „Was beschäftigt dich wirklich?“
Er nahm einen Gedankenfetzen seines Bruders wahr. Edrina … sie ist … Arian sah ihn aufmerksam an. „Wie geht es deiner Gemahlin?“
Ifan zuckte zusammen. Seine Miene verschloss sich. „Das ist das Letzte, worüber ich mit dir sprechen möchte.“
Arian lehnte sich zurück. „Verzeih.“ Er hatte anscheinend einen wunden Punkt getroffen. Das kam davon, wenn er versuchte, eine unverfängliche Unterhaltung zu führen! Er beschloss, das Thema zu wechseln. „Du befürchtest also, dass der Schutzwall beschädigt ist und die Orrmoks eingefallen sind?“ Etwas Kaltes flackerte kurz in seinem Inneren auf, aber Arian versuchte, es nicht zu beachten.
Ifan runzelte die Stirn. „Ich bin mir nicht sicher, weiß selbst nicht, was ich davon halten soll.“
„Aber es beunruhigt dich immerhin so sehr, dass du beschlossen hast, deine Zurückhaltung mir gegenüber aufzugeben?“
Ifan schien den leichten Spott nicht zu bemerken. „Hast du denn selbst gar nichts gemerkt? Du müsstest es doch wissen. Gibt es keinerlei Anzeichen von Regungen von … dort?“ Er vermied es bei diesen Worten, Arian anzusehen.
„Nein. Ich habe nichts bemerkt.“ Weil ich es nicht wollte, selbst wenn etwas geschehen wäre. Selbst wenn SIE … Er zog die Schultern hoch, als ihn ein kalter Schauder überlief. „Nein, da war nichts“, sagte er dann und hoffte, dass seine Stimme fest genug klang.
„Also gut. Vor mittlerweile fünf Sonnenaufgängen kam der Dorfvorsteher von Halin’Din zu mir und berichtete, dass eine Herde von hundertfünfundzwanzig Rindern und drei Hirten von der Weide verschwunden sind.“
„Verschwunden?“ Arian lächelte ungläubig. „Vielleicht wurden sie gestohlen?“
„Nein, das glaube ich nicht. Die Tiere werden im Frühjahr in das Gebirge getrieben, um die Almen abzuweiden. Jeder Bauer hat vor Urzeiten seinen Abschnitt zugewiesen bekommen. Die Kühe werden gut bewacht, sie sind das wertvollste Gut der Dorfbewohner. Am Abend, als sie in die Pferche getrieben wurden, waren alle noch da. Am nächsten Morgen – nichts. Der Pferch war leer, es gab nicht die geringsten Spuren. Als hätten sie sich in Luft aufgelöst und ihre Bewacher dazu.“
„Es war Neumond, oder?“ Ein mulmiges Gefühl breitete sich in Arian aus. War es denkbar, dass die saugenden Schatten tatsächlich einen Weg gefunden hatten, den Schutzwall zu durchbrechen?
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