Der Dorfvorsteher, der sich als Efgud Nilsam vorstellte, bat seine Gäste, sich zu setzen. Arian und Ifan erhielten die etwas erhöhten Ehrenplätze in der Mitte der Tafel, während ihre Begleiter, der Dorfvorsteher und die fünf Ältesten des Dorfes sich zu den übrigen Stühlen begaben. Im rückwärtigen Teil des Saales war für die Oberhäupter der Familien gedeckt worden. Es mochten an die fünfzig sein.
Mägde eilten auf einen Wink des Dorfvorstehers mit Schüsseln herein, in dem sich mit Kräutern versetztes Wasser befand. Die Gäste wuschen sich darin die Hände. Die Mädchen huschten eilig davon, als sie ihre Aufgabe erfüllt hatten.
Es würde ein langer Abend werden, denn zu Ehren der hohen Gäste wurden bestimmt nach dem Essen noch alle möglichen Arten von Unterhaltungen geboten.
Ifan warf Arian einen forschenden Blick zu, den er mit einem verhaltenen Lächeln erwiderte. Noch immer fand er es ungewohnt und seltsam, dass sein jüngerer Bruder sich Sorgen um ihn machte. Früher war es umgekehrt gewesen.
Wie Arian befürchtet hatte, zog sich das Abendessen in die Länge. Die vielen Köstlichkeiten, die gereicht wurden, versöhnten ihn allerdings wieder. Es gab kräftige Rinderbrühe mit Gemüse und Getreide, Forellen, deren feines weißes Fleisch mit Kräutern gewürzt war. Hasenfleisch in einer dicken Soße von Süßwurzeln, einen Rinderbraten, der beinahe auf der Zunge zerging und als Abschluss den berühmten Halin’Diner Käse. Sein zarter Schmelz und sein edles Aroma begeisterten auch Arian, der zugeben musste, dass er lange nicht so hervorragend gegessen hatte. Auch der leichte, würzige Wein, der nicht berauschend wirkte, schmeckte wunderbar.
Er versuchte, so gut es ging, nicht auf die ängstlichen Blicke der Dorfbewohner zu achten, die jeden seiner Bissen und den Gesichtsausdruck, den er zur Schau stellte, beobachteten, und es wurde ihm bewusst, wie sehr er sich an seine Einsamkeit gewöhnt hatte. Er beeilte sich daher, jedem Gericht sein Lob auszusprechen.
Danach kam der Auftritt eines Sängers, der zur Begleitung einer Leier die alten Balladen der Ladarnos zum Besten gab.
Hinter Arians Schläfen begann sich ein dumpfes Klopfen bemerkbar zu machen. Das ständige Gewirr von Stimmen, das in seinem Kopf herrschte, erschöpfte ihn zunehmend. Glichen sie zu Beginn noch dem Flüstern der Verlorenen, allerdings ohne den Unterton der Verzweiflung, so hörten sie sich jetzt, nach dem reichlichen Essen, wie eine nicht enden wollende Kakophonie an. Er wusste nicht mehr zu unterscheiden, ob es Gedanken oder gesprochene Worte waren. Eine ganze Palette unterschiedlicher Empfindungen stürmte auf ihn ein, wurde vor ihm ausgebreitet. Die alltäglichen Sorgen der Menschen, Klatsch und Tratsch, Liebe und Hass, Freude und Leid. Früher hatte er sich dagegen schützen können, aber es erschütterte ihn, wie schwach seine Abwehr mittlerweile geworden war. Der künstlerischen Darbietung folgte er deshalb eher halbherzig, obwohl der Sänger mit angenehmer Stimme einfache, zu Herzen gehende Melodien zum Besten gab.
Ifan warf ihm einen Seitenblick zu und winkte den Dorfvorsteher zu sich. „Wir danken Euch für dieses wunderbare Mahl, aber jetzt würden wir gerne ungestört über die Ereignisse sprechen, die zu unserem Erscheinen führten.“
Nilsam verbeugte sich und führte sie aus dem Saal in einen weitläufigen Hof zu einem gegenüberliegenden Gebäude, nachdem Ifan seine Männer der Obhut eines Knechtes überlassen hatte, der ihnen das Nachtquartier zeigen sollte.
Arian atmete tief die kühle Nachtluft ein. Sein Kopf schmerzte immer noch und am liebsten hätte er sich zurückgezogen. Ifan fasste ihn am Arm und sah ihn wieder besorgt an. „Was ist dir?“
Er schüttelte den Kopf und versuchte ein Lächeln. „Zu viele Menschen“, murmelte er.
„Willst du dich ausruhen? Ich kann auch allein mit Nilsam sprechen.“
„Nein. Ich möchte mir seinen Bericht anhören.“ Er schluckte, atmete noch einmal tief durch. Nicht umsonst hatte er gelernt, seine Befindlichkeiten stets allem anderen unterzuordnen. Von einem Arcsardar wurde erwartet, dass er Stärke zeigte, wurden die Angehörigen seines Volkes doch früher wie Halbgötter verehrt. Aber vielleicht stimmte das mittlerweile nicht mehr und er war zu einem Relikt geworden, dem man eher Spott und Verachtung zollte. Wer mochte dieser hasserfüllte Mensch gewesen sein, der diesen einen Satz gedacht hatte? Er hätte es herausfinden können, wenn er die Gedanken der Dorfbewohner gelesen hätte, aber er war viel zu müde dazu. Es war nicht der Mühe wert, sie würden morgen weiterreisen und er würde wahrscheinlich nie wieder einen Fuß in dieses Dorf setzen.
Nilsam hieß sie in einen ebenfalls ebenerdigen Raum eintreten, der mit massiven Holzstühlen und einem großen Tisch eingerichtet war. Die Fenster standen offen. Trotzdem roch es ein wenig muffig, als würde er nicht oft benützt. Der Dorfvorsteher entzündete die Kerzen auf dem Leuchter, der auf dem Tisch stand. Als er aus einem Krug Wein einschenkte, winkte Arian ab. Er wollte nur Wasser. Die Schmerzen in seinem Kopf kamen und gingen wie sachte Wellen aber sie waren jetzt erträglicher.
„Wenn Ihr es gestattet, hole ich den Jungen, der Zeuge des Vorfalls war.“ Ifan nickte und Nilsam eilte hinaus. Er kam überraschend schnell in Begleitung eines schmalen, etwa zehnjährigen Knaben, zurück, der für sein Alter sehr selbstsicher auftrat. Er verbeugte sich vor Arian und Ifan und blieb abwartend mit gesenktem Kopf stehen.
Nilsam schloss die Fenster. Ifan hieß die beiden mit einer Handbewegung sich setzen. „Berichte, was du gesehen und gehört hast.“
Der Junge räusperte sich. „Es war in der letzten Neumondnacht vor“ – er zählte an den Fingern ab – „neun Tagen. Da ist es geschehen.“
„Wer bist du? Wer ist dein Vater?“
„Iltur Sarkoy ist es, Herr. Er ist der Besitzer des größten Hofes hier in Halin’Din. Mein Name ist Iltur der Jüngere“, sagte der Junge nicht ohne Stolz.
„Wie viele Rinder besitzt deine Familie?“ Ifan lächelte den Jungen an. Der musterte ihn ohne Scheu. Arian allerdings wurde von ihm mit einem halb argwöhnisch, halb ehrfurchtsvollen Blick bedacht.
„Dreihundert, Herr. Wir treiben aber nicht alle auf die Alm. Nur einen Teil davon.“
„Dieser Abschnitt ist der größte. Er liegt zwei Meilen entfernt vom Hof, einen halben Tagesritt östlich von Halin’Din und erstreckt sich bis zu den Steilhängen des Abrus, nicht wahr?“
„Es ist so, wie Ihr sagt, Herr.“ Der Junge sah Ifan aufmerksam aus hellen blauen Augen an.
„Jeder Bauer darf einen bestimmten Abschnitt der Alm bewirtschaften, das ist schon seit Generationen so“, warf Nilsam ein.
Ifan nickte. „Erzähl weiter“, sagte er zu dem Jungen.
Arian trank einen Schluck Wasser. Die kühle Flüssigkeit belebte ihn und es gelang ihm, nur zuzuhören und die Gedanken der Anwesenden auszusperren.
„Wir haben wie üblich die Rinder am späten Nachmittag in die Pferche getrieben. Es wäre gefährlich, sie in der Dunkelheit frei grasen zu lassen, sie könnten abstürzen. Die Tiere werden dabei gezählt und sollten welche fehlen, werden sie natürlich gesucht. Sie sind unser wertvollster Besitz. An diesem Nachmittag fehlte kein einziges und ich war froh darüber. Ich sollte nämlich noch zurück auf den Hof, um beim Schlachten zu helfen.“
„Das heißt, du hast die Alm verlassen, bevor es dunkel wurde?“
„Ja, Herr. Ich schaffte es gerade noch vorher zum Hof.“ Er stockte und schüttelte sich. „Ich muss immer daran denken – wenn ich geblieben wäre …“
„Wie viele Männer waren auf der Alm?“ Zum ersten Mal richtete Arian das Wort an ihn. Der Junge zuckte zusammen und fixierte den Boden, um ihm nicht in die Augen blicken zu müssen.
„Drei, Euer Hochwohlgeboren“, sagte er leise. „Üblicherweise wird nach dem Zusammentreiben zu Abend gegessen. Wir gehen da oben meist früh schlafen.“
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