Der Anblick des Llyn Teyrn zu ihrer Rechten riss sie aus ihren Gedanken. Der kleinste See auf dem Weg zum Gipfel des Mount Snowdon bot zwar längst nicht das spektakulärste Bild auf dem Track, aber der tiefblaue Himmel und die weißen, kleinen Wölkchen, die sich auf der ruhigen Oberfläche spiegelten, vermittelten etwas Verwunschenes. Die friedliche Stille wurde durch das Krächzen eines Krähenschwarms unterbrochen. Carys sah den schwarzen Vögeln nach, bis sie hinter einem Hügel verschwanden. Bis jetzt hatte sie noch keinen Menschen getroffen. Sie begann, halblaut zu summen, während sie in ruhigen, gleichmäßigen Schritten weiterging. Die Melodien kamen wie von selbst in ihren Kopf, dann fielen ihr auch die Worte dazu ein. Ein traditioneller irischer Folksong.
When apples still grow in November, when blossoms still bloom from each tree, …
Der Weg schlängelte sich in einer kaum merkbaren Steigung entlang der herbstbraunen Hügel. Carys marschierte zügig weiter und hielt erst am größten See, dem Llyn Llydaw, wieder an.
Hier hatte ihr damals ihr Vater die Legende von König Artus erzählt. Der tödlich verwundete Held wurde zu diesem See gebracht, wo er sein legendäres Schwert der Lady of the Lake übergab. Er verschwand in den Hängen des Berges, wo er heute noch schlafen soll und darauf wartet, Wales aus großer Gefahr zu retten. Damals hatte sie fasziniert auf die mit kurzem Gras bewachsenen Flanken der Hügel gestarrt, um irgendwo ein Zeichen zu entdecken, wo sich der König verstecken mochte. Mit leiser Wehmut betrachtete sie den See. Die Legenden der Kindheit hatten keinen Bestand mehr in der Welt der Erwachsenen.
Carys überquerte die Steinbrücke am Ende des Sees und setzte ihren Weg fort. Vor ihr erhob sich der Gipfel des Mount Snowdon. Sie hatte wirklich Glück. Der Tag war klar und sie würde freie Sicht haben. Wahrscheinlich würde es oben von Touristen nur so wimmeln, die die Bahn und damit den bequemeren Weg zum Gipfel wählten. Sie hatte schon selbst an kalten, nebeligen Tagen welche getroffen, die in Ballerinas und Turnschuhen die letzten paar Meter auf die Spitze stiegen.
Sie ging ohne Pause weiter bis zum Glaslyn, dem dritten See, der als ellipsenförmiges blaues Auge zu ihren Füßen lag. Hier beschloss sie zu rasten, um für den tatsächlichen Aufstieg auf den Gipfel ausgeruht zu sein.
Sie legte den Rucksack ab und setzte sich auf einen Stein. Sie nahm ein paar tiefe Schlucke aus der Wasserflasche und konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken, als sie das Proviantpaket öffnete. Beim Anblick der zwei riesigen, mit Schinken, Käse und Salatblättern gefüllten Sandwiches begann prompt ihr Magen zu knurren. Sie verspeiste eines davon und beschloss, das andere auf dem Rückweg zu essen. Zuunterst im Päckchen entdeckte sie noch zwei Schnitten Kuchen. Das reichte ja leicht für zwei Personen! Wenn sie das alles aufaß, konnte sie das Abendessen heute getrost streichen.
Carys lehnte sich an den warmen Felsen in ihrem Rücken, schloss kurz die Augen und genoss die Strahlen der Sonne auf ihrem Gesicht. Friedliche Stille ringsum. Der Wind fächelte über ihre Stirn, in der Ferne erklang wieder das Krächzen der Krähen.
Mit einem Mal fuhr sie hoch und blinzelte benommen. Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass sie beinahe eine halbe Stunde lang gedöst hatte. Kein Drama, sie hatte genug Zeit und der Aufstieg zum Gipfel war zwar ein wenig schwieriger als der übrige Weg, aber er dauerte nicht lange.
Sie rappelte sich auf, packte den restlichen Proviant zusammen und schulterte wieder ihren Rucksack.
Eingedenk der Warnung ihrer Schwester achtete sie genau auf die Markierung, um die richtige Abzweigung vom PYG Track zu erwischen. Ein heftiger Windstoß fuhr ihr mit einem Mal über das Gesicht. Sie blieb stehen, sah sich um, stieß einen überraschten Laut aus. Wie merkwürdig! Über den Pfad krochen in Fußhöhe helle Schwaden, entstanden aus dem Nichts, während der Gipfel im Sonnenlicht badete. Was für ein eigenartiges Phänomen!
Sie ging langsam weiter, beobachtete den weißen Dunst, der sich immer mehr ausbreitete, aber in Bodennähe und in Abstand zu ihr blieb. Es war, als würde er sie beobachten. Blödsinn! Jetzt ging wieder einmal ihre Fantasie mit ihr durch! Aber irgendetwas an diesem Nebel war wirklich merkwürdig. Es dauerte einen Moment, bis sie realisierte, was es war. Sie hätte Feuchtigkeit spüren müssen, aber er war trocken wie Rauch, allerdings geruchlos. Leichte Schwaden wirbelten jetzt höher, entzogen den Pfad immer wieder ihrer Sicht. Sie sollte umkehren.
Carys hielt an, betrachtete die Flanke des Berges. Der Himmel über dem Gipfel war nach wie vor blau. Dann musste sie eben diese Nebelschicht überwinden. Sobald sie oben war, konnte sie ja mit der Bahn ins Tal fahren, um nicht mehr durch diese Schwaden wandern zu müssen.
Mit einem Mal fauchte wieder ein Windstoß auf sie zu. Er war warm und brachte noch mehr von diesem Nebel mit. Für einen Moment verschwand der Pfad vollkommen. Mist! Sollte sie doch umkehren? Sie drehte sich um und keuchte überrascht auf. Hinter ihr hatte sich eine dichte, weiße Wand aufgebaut, die die Umgebung verschluckt hatte. Sie konnte nicht mehr zurück! So etwas hatte sie bestimmt noch nie erlebt! Träumte sie etwa wieder? Sie kniff sich in den Arm, fühlte deutlich den Schmerz. Nein, kein Traum.
Sie wandte sich wieder bergwärts. Hier war die Sicht besser, der Nebel gab wenigstens ein paar Inches frei. Sie ging ein paar zaghafte Schritte. Die weißen Schwaden wichen zurück, es war, als wollten sie ihr den Weg frei machen oder sie in eine bestimmte Richtung lenken. Unschlüssig blieb sie wieder stehen. Das war echt unheimlich! Sollte sie sich einfach setzen und darauf warten, dass dieser merkwürdige Nebel wieder verschwand? Bevor sie Gefahr lief, abzustürzen? Aber das mochte Stunden dauern. Also tastete sie sich vorsichtig weiter. Immerhin stieg sie bergauf, also konnte die Richtung nicht völlig falsch sein.
Vor ihr tauchte plötzlich eine dunkle Felswand auf. Verwirrt blieb sie stehen. Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass eine solche auf dem Track existierte. Die Nebelschwaden gaben den Blick auf eine Spalte zwischen den massiven Steinen frei, gerade breit genug, dass sie passieren konnte. Deutlich sah sie jetzt einen Pfad aus feinem Schotter. Das konnte nicht sein. Es sei denn, die Route des Tracks wäre verändert worden, seit sie ihn das letzte Mal gegangen war. Was theoretisch sein mochte, aber dann hätten ihr Anne oder Curt das doch gesagt?
Zweifelnd fixierte sie die Felsspalte, trat zögernd darauf zu. Auf der anderen Seite wartete der undurchdringliche weiße Nebel, sie konnte nicht erkennen, was sich dahinter befand. Langsam drehte sie sich um, unterdrückte einen Schrei. Hinter ihr hatte sich die Luft so stark verdichtet, dass sie kaum atmen konnte. Sie wandte sich wieder um. Ein merkwürdiger Geruch drang plötzlich in ihre Nase. Wie elektrisiert blieb sie stehen, sog prüfend die Luft ein. Das roch – ja, das roch wie das Holz dieses seltsamen Kästchens!
Sie starrte in den dichten Nebel vor ihr. Der Geruch wurde stärker, betäubte sie fast. Sie streckte ihre Arme aus, tastete sich vorwärts, tat einen weiteren Schritt, noch einen, trat ins Leere. Ihre Hände fanden nichts, woran sie sich festhalten konnten. Ihre Füße schwebten für einen Moment in der Luft. Sie schrie auf und fiel in weiche, weiße Unendlichkeit.
Arian brach mit Sylhyan im Morgengrauen des nächsten Tages auf, als die Sonne gerade eine Ahnung von Licht am Horizont war. Die Mauern von Silkarnon wirkten grau im anbrechenden Tag und lagen bald nur mehr als fahles Viereck unter ihm. Er ließ Ifan und seine Männer, die zur gleichen Zeit losgeritten waren, hinter sich, während sein Windpferd mit kräftigem Flügelschlag aufstieg.
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