„Müssen wir das alles noch heute machen? Du hast doch gesagt, es ist Samstag?“
„Nein. Ich rufe kurz bei der Familie an und kündige unseren Besuch am Montag an. Dann sieht es nicht aus, als täten wir nichts, aber natürlich wollen wir die Schermanns nicht am heiligen Wochenende belästigen, nicht wahr?“
„Natürlich nicht!“ Katrin erwiderte das breite Grinsen.
Im Präsidium konnte sie dann bewundern, mit welch rücksichtsvollem, geradezu einfühlsamem Tonfall Anne der trauernden Familie ihren Besuch am Montagvormittag ankündigte und dabei auch gleich erfuhr, dass die Schwester Victoria in Henting wohnte, der Bruder, Benedikt, aber in Hamburg; er hatte nur vor kurzem bei seinen Eltern im Clementinenweg geweilt, wegen des Schicksalsschlags. Anne deutete vorsichtig an, dass man mit der Selbstmordtheorie bei der Kriminalpolizei nicht so ganz zufrieden war, und hörte einen Seufzer der Erleichterung und dann leises Weinen. Schließlich entschuldigte sich Frau Schermann für den – nur zu verständlichen – Gefühlsausbruch und verabschiedete sich.
Anne sah Katrin an. „Bitter, wenn du dein Kind verlierst! Anscheinend war sie aber ganz froh, dass es kein Selbstmord war.“
„Finde ich nachvollziehbar“, antwortete Katrin nachdenklich. „Schau, wenn sich jemand umbringt, den du gut gekannt hast, fragst du dich dann nicht, ob du das hättest erkennen müssen, ob du etwas hättest tun können oder müssen – ob du vielleicht eine Schuld daran hast? Was hab ich falsch gemacht, sozusagen? Aber bei einem Mord kannst du ja nichts dafür…“
Anne nickte. „Ja, da hast du wohl recht – aber schön ist so ein Mord auch nicht, nur weil ein anderer Schuld hat. Mal sehen, was am Montag rauszukriegen ist. So, und jetzt gehen wir heim… wo ist Ben eigentlich?“
Bens Schreibtisch war picobello aufgeräumt, auf der grauen Platte lag nur ein Zettel, auf dem stand: Keine Anrufe, Akten im Archiv, im Netz fast nichts über den Fall Schermann. Gehe heim.
Angeheftet waren einige Ausdrucke von Zeitungsartikeln, in denen aber außer Spekulationen auf den ersten Blick nichts zu finden war.
„Komm, wir gehen auch. Ich schnüffle vielleicht später diesem Silver Centre hinterher. Aber erst muss ich endlich mal was zu essen kaufen!“
Greta saß auf ihrer Schlafmatte und dachte nach. Diese Manuela… wann war die genau gegangen? Warum eigentlich? Hatte es ihr hier nicht gefallen? Hatten die Kurse, die Entspannungsübungen, die Meditation ihr nicht geholfen? War jemand unfreundlich gewesen? Vielleicht Hari? Aber der war halt so, der meinte es nicht so. Vielleicht war es so sogar besser. Hari war ja so etwas wie ein Geistlicher, die sollten vielleicht gar nicht übermäßig charmant sein? Gut, Pranesh war freundlicher, der hatte auch eher den Part der Seelsorge, wenn man in den Begriffen der katholischen Kirche sprechen wollte. Dann war Hari wohl so etwas wie ein strenger Kardinal… Sie kicherte unwillkürlich. Und Silver wäre dann ein Papst? Nein.
Wenn er sich einmal blicken ließ und so verträumt durch die Räume schwebte, hatte er eher etwas von einem Engel. Nicht von dieser Welt. Und wenn man gelegentlich einmal zu ihm geführt wurde, war es tatsächlich, als träte man vor einen Gott, und man fühlte sich hinterher irgendwie – naja – erhaben? gesegnet? Jedenfalls fühlte man sich – besser. Eigentlich merkwürdig…
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Rosi Högl hatte alles beobachtet, von der Ankunft dieser beiden Frauen – die sahen irgendwie aus wie die Kripo in den Vorabendserien – bis zu ihrem Abgang. Von dem Türenknallen wackelte beinahe das Haus! Na, diese komischen Leute, diese Pseudo-Mönche, konnten einen auch wirklich ärgern!
Wenn man sie traf, vor dem Haus oder im Treppenhaus, dann sahen sie durch einen hindurch, als seien sie über gewöhnliches Volk erhaben. Arrogantes G´schwerl…
Jedenfalls sie und den Greifenklau schauten sie immer so an. Die Schmalzl und die Behnisch eigentlich auch? Waren die nur an jungen Dingern interessiert? Man hatte ja über solche Leute schon viel gelesen, nicht wahr?
Was die Polizei bei denen wohl gewollt hatte?
„Tät mich schon interessieren“, murmelte sie und ließ ihren Parkettboden gleich noch energischer ein.
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Anja spielte mit ihrem Sohn; sie stapelte zwei Bauklötze aufeinander und Luca warf den kleinen Turm vergnügt krähend wieder um. Davon bekam er offenbar nie genug. Immerhin wartete er nach einiger Zeit schon, bis sie einen dritten Baustein obendrauf gesetzt hatte, und zerstörte den Turm dann erst. Etwas mechanisch baute Anja den Turm immer wieder auf, während sie überlegte, wer da wohl nebenan eingezogen war.
Ein gutes Haus, das musste man sagen. Solide. Dicke Wände. Hier musste man weinende Kinder nicht hektisch beruhigen, damit sich die Nachbarn nicht beschwerten! Ein großzügiges Treppenhaus, da konnte man den Buggy nach oben tragen, ohne einen entgegenkommenden Nachbarn umzurennen. Ein großer Kellerraum, warm und trocken, dort konnte man alles lagern, was man gerade nicht brauchte, zum Beispiel – sorgfältig verpackt – alle Babykleidung, aus der Luca schon herausgewachsen war. Nein, nie würde sie das weggeben, daran hingen doch Erinnerungen!
Sie holte ihr Handy. „Luca?“ Luca sah auf und lachte und sie drückte auf den Auslöser, mehrfach, auch, als Luca sich schon wieder abwandte und nun selbst den roten Baustein auf den blauen legte. Dann sah er wieder zu ihr, als wollte er sagen Bin ich nicht gut?
„Toll, Luca!“
Luca krähte und streckte die Arme aus. Anja nahm ihn sofort auf den Arm. „Mein Goldschatz…!“
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Desiree stieg müde die Treppen hinauf, immerhin froh darüber, dass sie im Drogeriemarkt nur die Frühschicht gehabt hatte. Was die Leute an einem Samstag alles kauften! Hatten die Angst, am Sonntag ohne Deo, Klopapier oder Wimperntusche dazustehen?
Nein, wahrscheinlich hatten sie nur alle unter der Woche keine Zeit, weil sie da arbeiten mussten. Hektische Zeiten, sie fühlte es ja selbst! Puh, war sie jetzt müde…
Warum mietete eigentlich niemand die Wohnung neben ihrer? Eine Zweizimmerwohnung im Dachgeschoss, in fast schon zentraler Lage, zu einer – naja – wohl nicht gerade niedrigen, aber doch bezahlbaren Miete? Wer war da eigentlich der Eigentümer?
Im zweiten Stock war ja eine Neue… hatte die schon ein Namensschild?
Tatsächlich – ach, stimmte ja, Preuß. Kam die wohl daher? Naja, so aussagekräftig waren Namen wohl auch nicht. Was sollte man dann wohl aus Schmalzl machen? Und warum Desirée? Mama hatte mal gesagt, das bedeute die Ersehnte. So ein Blödsinn, sie war doch wohl ein Unfall gewesen, nach dem, was sich ihre Eltern früher immer gegenseitig an den Kopf geworfen hatten. Gut, dass sie da raus war!
Die Wohnung war ihr eigentlich ein bisschen zu teuer, aber lieber sparte sie anderswo, als am Kreuz West oder in Spitzing West zu wohnen. Da lief sie dann nur ihren Eltern über den Weg – und für die Arbeit hier brauchte sie dann ja auch noch die Löffelkarte. Lieber hier wohnen und sonst nichts haben! Das Haus war so richtig bürgerlich. Gutbürgerlich. Das gefiel ihr, man konnte sich fast einbilden, es weiter gebracht zu haben.
Immerhin war jetzt Samstag – und für ein paar Fünfminutenterrinen hatte es doch noch gereicht. Und Äpfel.
Wochenende!
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Seine Wohnung war eigentlich eine Zumutung, fand Herr von Greifenklau. Auf diesen Namen legte er durchaus Wert, aber deshalb brachte man ihm hier auch nicht mehr Respekt entgegen.
Seine Familie hatte Jahrhunderte lang erst eine trutzige Burg auf der Schwäbischen Alb bewohnt und dann, als die Burgen so gar nicht mehr dem Zeitgeschmack entsprachen, ein hübsches kleines Schloss in der Nähe von Neu-Ulm gehabt. Aber in den letzten Generationen war das Vermögen immer stärker geschrumpft. Das lag natürlich an dieser sich immer schneller verändernden Gesellschaft, in der man gewisse Standards kaum noch aufrecht erhalten konnte. Ein Greif von Greifenklau konnte schlecht ein Tätowierstudio aufmachen oder im Supermarkt Regale auffüllen. Taxifahren verbot sich auch von selbst, ein Greifenklau war doch kein Lohnkutscher!
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