Was anderes: Ich liebe die See und die Seefahrt und bin froh, dass bei der modernen Version von Meuterei auf der Bounty im Vergleich zur älteren nicht mehr ganz so deutlich spürbar ist, wie Studioarbeiter Kübel mit Wasser auf die Protagonisten schütten, wenn das angeschlagene Schiff des nachts in stürmische See gerät. Mit ein bisschen Phantasie konnte man bei alten Filmen des Genres Seefahrt deutlich erkennen, wie die armen Hilfskräfte im Studio was geht Wasserkübel ausleerten, während Windgeneratoren den Schauspielern die Haare aus dem Gesicht bliesen und die Segel über ihren Köpfen gerade mal so eben ein bisschen hin und her schwangen. Eine müde Sache für jeden Segler und so stelle ich mir lieber vor, wie sich die Schauspieler auf dem Deck des gefakten Schiffs, das niemals im Wasser schwamm, die Hälse wund schreien, während sie in Richtung des Kameramanns blicken und entsetzt dem nahenden Untergang entgegensehen, der nie stattfinden wird. Lustig ist auch, wie die Tontechniker die Lautstärke des Sturms auf einen Bruchteil runterdrehen, wenn der Kapitän seinem Oberbootsmaat zuruft: Zwei Strich Steuerbord! Das würde sonst nämlich keiner im Publikum hören, also muss die Lautstärke runter. Kaum gesagt, wird der Sturm wieder auf ohrenbetäubendes Level getunt, bis wieder jemand was von sich gibt, dass das Auditorium über den weiteren Verlauf des schicksalhaften Geschehens an Bord der Brigantine informiert.
Besonders absurde Glücksfälle kann man bei Schießereien in Action-Filmen erleben. Bruce W. wird mitten auf der Straße von, sagen wir mal, zwanzig Gangstern verfolgt und alle schießen aus nächster Nähe auf ihn. Er dreht sich um und erschießt zwei oder drei mit gezielten Salven aus seiner Halbautomatik. Das geht aber nur, weil die sich nicht verstecken. Die stehen einfach so da und ballern, was das Zeug hält. Dann läuft Bruce wieder ein Stück davon und alle schießen ihm nach, treffen ihn aber nicht, obwohl er völlig ungedeckt ist und sie ihm dicht auf den Fersen sind. Jetzt wirft sich Bruce in Deckung, bevor er wieder ein Magazin leert und er trifft auch ein paar seiner Kontrahenten, immerhin stehen die ja nur auf der Straße rum mit ihren feuerspeienden Knarren. Und wieder fallen einige tot um, Bruce läuft ungedeckt weiter, Blei pfeift ihm um die Ohren, doch das Schicksal will es nicht, dass er schon jetzt seinem Schöpfer gegenübertritt. Er wirft sich wieder hin und pustet einigen, die einfach rumstehen wie Selbstmörder, das Lebenslicht aus.
Was Film und Medien angeht, kann man uns wirklich alles vormachen. Wir wollen das so und deshalb stört es uns nicht. Wer will denn schon mit den nackten Tatsachen des Lebens konfrontiert werden?
Nehmen wir mal ein Beispiel:
Eine künstliche Intelligenz erscheint auf der Bildfläche und bietet an, uns den Weg in eine schönere, segensreiche Zukunft zu weisen. Natürlich würde im echten Leben keiner von uns selbstherrlichen Kerlen diesem virtuellen Alien-Orakel vertrauen, aber setzen wir mal voraus, dass wir von der Allwissenheit dieses Geschöpfs überzeugt wurden und nunmehr darauf warten, welche Entscheidungen für die Zukunft anstehen.
Das Orakel:
»Ihr seid zu viele, ihr müsst auf eine Milliarde Menschen abspecken…«
»Was...? Ich will doch noch drei Kinder…!«
Das Orakel:
»Geht zurück in die Höhlen, bis sich der Planet erholt hat…«
»Hää…?«
Das Orakel:
»Lasst sofort Eure Autos stehen und schaltet alle Atomkraftwerke ab…«
»Wie bitte…?«
Das Orakel:
»Fördert kein Öl mehr und stellt keine Kunststoffe mehr her…«
»Fuck You! Wer hat Dich eigentlich gefragt…?«
Ja, was denken die sich eigentlich dabei?
Goethe, Schiller, Lessing, hä…? Und das einem Siebzehnjährigen? Glauben die wirklich, da kann sich noch einer einen Reim drauf machen. Noch dazu mit Pickeln im Gesicht, völlig verkorkster Biochemie und einer Orientierungslosigkeit, die zum Himmel stinkt? Doch der Lehrplan will Lyrik ins Hirn der Zöglinge pflanzen, auf Biegen und Brechen, und das können sie, das Biegen und Brechen. Zumindest meine Lehrer können das prächtig und schlafen scheinbar gut dabei. Wer fragt schon, wie´s uns geht? Und zu Fragen in diesem größeren Zusammenhang finde ich meinen Ansprechpartner nicht im Lehrerzimmer, nein, der sitzt neben mir, der H.
H, mit dem hämischsten Lachen, das die Welt je gehört hat und mit einer herzerfrischenden Autoritätsverweigerung, ist mein Spiegel, und was ich in ihm finde, dem Spiegel, verlangt nach Rache, nach Vergeltung für Mühsal und Qual im Deutsch-Unterricht und nicht nur dort. Dem gerechten Feldzug gegen die Lyrik gilt nun unsere Aufmerksamkeit. Sein Beitrag ist die Aktion, meine die Worte, von Dada wissen wir nicht viel. Doch sind nicht jene die Besten, die unverdorben von Beispiel und Gezänk der Rebellion ihr eigenes, urtümliches Unwesen anzetteln? So war es und so wird es immer sein; das ahnen wir schon und machen unsere eigenen Pläne, um die alten Knacker, in Bronze gegossen, von ihren Sockeln zu reißen.
Frau L, wenn auch gefangen im strikten Lehrplan, will nicht die Stockkonservative raushängen lassen und lässt uns Freiraum beim Zitieren der Geistesgrößen. Auch Auslegung ist gefragt und da kommen wir ins Spiel, denn Auslegung ist nicht klar umrissen, da kann man schon was wagen und nachdem die anderen ihre lyrischen Ergüsse ohne Rhythmus und Gefühl vom Stapel gelassen haben, werden wir aufgerufen.
H legt eine Kniebeuge hin, bleibt da unten, mit der Nase auf Höhe der Tischkante und hoppelt wie der leibhaftige Osterhase durch den Gang nach vorne, verbeugt sich und hoppelt wieder zurück. Das hatten wir so besprochen. Ansonsten hat er freie Hand in der künstlerischen Auslegung meiner Worte, die nun folgen:
„Der Lyristik sei Dank!“
nugliert der Eierbär;
Denn flausch´ge Zitronen
Sind nach seinem Geschmack.
Was hilft´s, mit Eidechse und Schwamm
Trübe Kemenaten zu tapezieren?
Ist´s zweierlei Gezänk,
Das Hohngelächter trinkt,
Als wär´s Honig ohne Biene?
Mit Nein muss ich´s bejahen,
Und nuglieren!
Flausch´ge Zitrone,
Dem erhabenen Eierbär entrungen,
Soll Leitstern mir sein
Im lyristischen Gewölb,
Das über mir dräut.
Klar, Siebzehnjährige haben keinen Humor und da ist es nur stimmig, dass auch Frau L keine Regung zeigt. Nur in ihren Augen blitzt kurz ein Funke von Verzweiflung auf - wie ein kosmischer Gamma Ray Burst - fast nicht wahrzunehmen in seiner Kürze, doch mit ungeheurer Energie. Wir wissen also nicht mit Sicherheit, ob unsere Auslegung angekommen ist und schon gar nicht wie, doch wir sind´s zufrieden, wenngleich wir nunmehr unsere künstlerische Unschuld am Altar des Dadaismus geopfert haben. Aber so ist das nun mal. Man äußert sich und wird einem Stereotyp zugeordnet, das war´s. Und versuch da mal wieder rauszukommen.
Doch noch wissen wir nicht, dass wir ab jetzt auf vorgezeichnetem Wege wandeln werden. Eine Woche später zeigt mir H zwei winzig kleine Papierfetzchen im Kaffeehaus und es trifft sich gut, dass ich eine volle Tüte mit Zehngroschen-Münzen dabeihabe, die ich bei der Bank einwechseln will, denn H hat kein Geld mit und erklärt mir, die Groschen würden schon reichen, um die Zeche zu begleichen und bestellt nochmal mit leerer Börse Kaffee und Kuchen, während er mir einen der Trips in den Mund steckt. Lange dauert es nicht, die Zeitwahrnehmung verschiebt sich aufs Gröbste, deshalb sei angemerkt: Das Lange dauert es nicht muss ich relativieren. Kann auch sein, dass es eben gerade LANGE gedauert hat, oder eben KURZ. Wie auch immer, die Kellnerin bemerkt ungewöhnliche Vorgänge an Tisch Nummer sieben und fragt nach, ob wir uns nicht lieber verpissen möchten. Da zieht H die Schnur aus dem Bund seiner Jogginghose, bindet sie sich um den Hals und drückt mir das freie Ende in die Hand. Er, auf allen Vieren, gibt artiges Wauwau von sich und ich bin in die Rolle des Hundehalters gezwungen, mit einer Einkaufstüte voller Groschen in der einen und einer Hundeleine in der anderen Hand. H streift - ganz Hund - an die Schenkel der anderen Gäste und die Kellnerin verlangt von mir die Begleichung der Zeche, denn Hunde müssen und können schließlich nicht zahlen. Das hat er fein eingefädelt, der H.
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