Als Draufgabe gibt es die Spezialität des Hauses, und damit meine ich, zwanzig Personen in einem Arrestantenwagen, der für zehn Bösewichter ausgelegt ist. Wir quetschen uns auf den Bänken und am Boden da rein, die Tür fällt knallend zu und es ist zu eng, viel zu eng - nicht geeignet, das Herz klaustrophobischer Zeitgenossen höher schlagen zu lassen und ich denke mir: Gleichmäßig atmen, das ist bald vorbei , doch irgendwie ist zum Atmen nicht genug Sauerstoff hier drin. Ich denke, mit den wenigen kleinen Schlitzen in der Seitenwand würde der Dreckswagen Monate brauchen, um zu versinken, wenn man ihn ins Wasser schmisse. Ich denke an Geronimo und Sitting Bull und Crazy Horse und White Cloud und daran, was die durchmachen mussten und das war doch keine Kleinigkeit verglichen mit meinem Los. Verweichlicht wie ich bin, fürchte ich mich vor dem Spießrutenlauf in der Polizeikaserne, den die Herren mit uns abziehen werden, dabei werde ich aber weiterleben im Unterschied zu den wahren Helden, die vor lachendem Publikum geschändet wurden bis zum Tod.
Doch den Schalk, den kann man nicht ausrotten, denn der muss ja später mal dem Nichts den Arscgtritt verpassen, damit der nächste Urknall und somit das ganze Spiel aufs Neue beginnen kann. Der Schalk lebt ewig und folglich auch heute. Mit rasender Geschwindigkeit und Folgetonhorn geht es über den Wiener Gürtel, von den Wänden rinnt der Atem von zwanzig Gerechten - verwandelt in Kondensat - und alle sehen wir mit Sehnsucht dem Aussteigen entgegen. Lasst uns doch endlich da raus, um uns zu verprügeln! Und da bleiben wir bei einer Kreuzung stehen und irgendwer kommt drauf, dass ich Geburtstag habe und noch dazu meinen Zwanziger. Ich hole gerade Luft bei einem der kleinen Schlitze und sehe mit einem Auge raus auf die Passanten, die den Zebrastreifen überqueren und was können die denn schon sonst, als durchs Leben zu schlurfen? Da erschallt ein markiges HAPPY BIRTHDAY TO YOU aus neunzehn Kehlen - ein trotziges, heroisches HAPPY BIRTHDAY TO YOU und ich sehe durch die schmalen Schlitze im Blech des Wagens den absolut und unwiederbringlich verwirrten Gesichtsausdruck dieser Menschen da draußen, die so was noch nie aus einem Gefangenentransporter gehört haben und dieses Bild bleibt mir, auch wenn sonst nichts bleibt.
Artgerechte Haltung - 2012
»Aaahh, du schreibst! Was schreibst´n so…?«
M scheint ehrlich interessiert, gleichwohl möchte ich nicht darüber sprechen, noch dazu, weil das Buch nicht abgeschlossen ist, ganz zu schweigen davon, dass ich keine Ahnung habe, wer das Machwerk dann verlegen wird, aber soll man denn stumm bleiben wie ein Fisch, wenn freundlich und scheinbar wissbegierig nach den näheren Umständen der sinnreichen Betätigung des Worteschmieds gefragt wird? Nein, das will man nicht. Das wäre nicht fair gegenüber der Welt, die sich doch unbewusst nach neuer und neuester Lektüre sehnt. Und schließlich will man ja auch nicht, dass der am Ende noch denkt, man schreibt das Horoskop für die UBahn-Zeitung, mit der sich die Werktätigen während der Fahrt zur Arbeit ihre Meinung bilden. Solche schrecklichen Missverständnisse können sich schon mal ergeben, wenn man nicht rausrückt mit den Details seines Schaffens. Also rücke ich damit raus, gegen jede Intuition und besseres Wissen.
»Äh ja, ich bin da grad dran an meiner Autobiographie und die…«
»HE LEUTE, KANN MIR MAL WER HELFEN?«, brüllt hinter mir S, und M´s Wissbegierde schlägt in männliche Hilfsbereitschaft um, schließlich sind wir beim Grillen in großer Runde, F hat eingeladen, damit wir seinen Garten bestaunen können und da muss schon mal mit angepackt werden. Wo käme man da hin, wenn sich alle um die Arbeit drückten, denn die gibt´s ja auch, wenn man nicht in der Arbeit ist und man muss dann auch nicht nachdenken über die Ungerechtigkeit der Welt, wenn reine Manneskraft gefragt ist.
»Wart mal kurz, ja. Ich helfe nur mal S mit dem Tisch dahinten.«
Er schenkt mir ein verschwörerisches Lächeln, als er aufspringt. Ganz so, als wären wir gerade dabei gewesen, die Revolution anzuzetteln und weg ist er. Da beugt sich seine Freundin T zu mir rüber und flüstert:
»Autobiographie? Aber du bist doch erst fünfzig!«
Das verwirrt mich dann doch etwas und es ist nicht weit her mit meiner Reaktionszeit. Ich frage mich: Wie alt muss man denn sein für seine Autobiographie, du blöde Kuh? Muss man dann schon am Stock gehen und drei Bypass-OPs hinter sich gebracht haben? Ich muss wohl einen reichlich unfreundlichen Gesichtsausdruck haben, als ich unmotiviert erkläre:
»Naja, hab einiges erlebt und da…«
»Was es nicht alles gibt, sagt T.«
Kopfschüttelnd stopft sie sich ein Stück Kotelett in den Mund. Zu spät, denke ich, jetzt muss ich da durch, merke es dir fürs nächste Mal und für alle Zeiten. Das hast du doch alles schon mal durchgemacht. Wer hat denn das nochmal gesagt, mit dem Schweigen und dem Gold?
»Also, worum geht´s denn…?«
Sie tupft sich die Mundwinkel ab, als Signal, dass ich nun ihre ungeteilte Aufmerksamkeit habe und reißt ihre Augen weit auf, als Zeichen ihres Interesses.
»Ich hatte da so eine Idee für einen Mix aus den Geschichten, die ich erlebt hab und dazwischen eingefügten Statements, die unser Leben relativ…«
Neben mir schreit ein Kind auf und sofort meldet sich mein Tinnitus zu Wort. T´s kleiner Sohn hat sich an der Tischkante den Kopf angeschlagen und vergräbt nun brüllend sein Gesicht zwischen den Brüsten seiner Mutter. Dann dreht er sich zu mir und schießt mir mit seinen Blicken giftige Pfeile entgegen, schließlich braucht´s immer einen Schuldigen, wenn man sich als Kind weh tut und ich bin der nächst Greifbare als Sündenbock. Er schreit mich mit aggressiven, oszillierenden Obertönen an, als hätte ich seine Mutter vor seinen Augen aufgeschlitzt und irgendwie fühle ich mich auch schuldig und weiß nicht warum. Ich beiße von meinem vegetarischen Burger ab und warte, wie sich die Lage weiter entwickeln wird. Gerade will ich aufstehen, um einen Joint zu rauchen oder was zu trinken zu holen oder irgendjemanden zu erwürgen, als sich M wieder neben mich setzt.
»Na, worum geht´s jetzt in deinem Buch…?«
»Wie bitte?«
Links mein Tinnitus, rechts das schluchzende Kind mit seinen vorwurfsvollen Blicken, da kann´s schon vorkommen, dass man nicht gleich versteht.
»Na dein Buch!«
»Äh, ich hab T grad erklärt, dass ich so einen Mix aus verschie…«
»Momentchen!«
Ich höre die Ode an die Freude, aber keine Bässe, nur die Höhen, und M zieht sein Handy aus der Tasche. Widerlicher Sound, denk ich, am liebsten würde ich ihm das Teil aus der Hand reißen, in das Biotop gegenüber schmeißen und ihn hinterher.
»Nein, ich hab dir doch gesagt … was? … ich hör dich schlecht, was?«
»Komm gleich wieder«, sagt er zu mir, mit der Hand auf dem Mikro.
Er probiert einen bedauernden Gesichtsausdruck, wie ein Mime in einem ländlichen Bühnenstück, wenn er bei einer wichtigen Angelegenheit gestört wird, aber gestört fühl ICH mich, geistes - gestört. M verschwindet wieder.
»Nun erzähl mal…« T meldet sich wieder zu Wort.
Sie isst ihre Nachspeise und ihr Kind achtet darauf, dass sie nicht alles selbst reinlöffelt. Alle naslang füttert sie den Kleinen mit einer Portion davon, ganz fürsorgliche Mutter, und der Kleine zieht an ihren Haaren von wegen Nachschub, sowie er runtergeschluckt hat.
»Ja, wie ich schon sagte, ich arbeite seit ein paar Wochen an der Sache und komm ganz gut voran. Ist mein bes…«
I, die Frau von F, dem Gartenbesitzer, hebt mich mit festem Griff an der Schulter an.
»Steh doch mal auf, die Bank steht ja ganz schief, ich mach das mal.«
»Ja klar. Ich komm gleich wieder«, sag ich jetzt mal zur Abwechslung zu T und mache, dass ich wegkomme. Ich brauche Flüssigkeit, Liebe oder ein Raumschiff, entscheide mich in Ermangelung der beiden letztgenannten Dinge für ein Getränk und peile die Bar beim Geräteschuppen an. Da stehen A, H und F beim Rauchen. Ich mag A sehr, immer könnte ich auf sie zählen und sie weiß, dass mit mir auch immer zu rechnen ist, wenn nötig. Und sie weiß natürlich, dass ich schreibe.
Читать дальше