»Richtig.«
»Und was war jetzt so wichtig mit Jerusalem?«
Finn hatte sich mittlerweile sein neues Lexikon geschnappt und eine Seite mit der Karte des Oströmischen Reiches aufgeschlagen. Er war nämlich nicht sicher, wo genau die Türkei und und vor allem Jerusalem lagen.
»Für die Christen ist Jerusalem ein heiliger Ort. Denn dort soll laut alten Überlieferungen Jesus Christus begraben liegen.«
Tea zeigte Finn auf der Karte die Stelle, wo Jerusalem liegt.
»Und dass dieser heilige Ort in die Hände von Ungläubigen fallen sollte, war für die Christen ein Frevel.«
»Gut, aber was hat das jetzt alles mit den Kreuzzügen zu tun?«
»Du erinnerst dich an den Kaiser mit dem unaussprechlichen Namen? Alexios?«
Finn nickte.
»Der hatte eine Nachricht über die Eroberung Jerusalems geschickt und darin um militärische Hilfe gebeten. Alleine ist er nämlich nicht mit den Seldschuken klar gekommen.«
»Ach so! Und deswegen haben sich die Ritter auf den Weg gemacht, um mit ihm zu kämpfen?«
»Ganz genau! So gesehen hat Alexios den ersten Kreuzzug ausgelöst.«
»Ich verstehe.«
Finn klappte das Lexikon zu und nahm einen der Ritter in die Hand.
»Dann weiß ich jetzt ja Bescheid und wir können endlich spielen!«
»Ich habe eine bessere Idee«, sagte Tea und stellte den Ritter zurück zu seinen Gefährten.
»Und wenn du dachtest, dass dein Geburtstag schon ziemlich merkwürdig war, dann warte mal ab, was jetzt passiert!«
Tea griff nach Finns Hand.
»Achtung!«, rief sie laut, »Los geht's!«
Finn wurde plötzlich ganz schwarz vor Augen. Doch dann tauchte ein roter Farbsteifen auf. Die Farbe änderte sich erst langsam in orange, dann gelb, wurde grün und schließlich blau. Der Wechsel der Farben wurde mit jeder Sekunde schneller. Sie flossen ineinander und er sah ein Farbspektrum, das in keinem Malkasten zu finden war. Irgendwann blitzte es nur noch kurz und grell auf. In seinem Magen drehte sich alles, als ob er Achterbahn fahren würde. Nur ohne den Wind in seinen Haaren. Die zuckenden Blitze wurden langsamer und die Farbspirale wieder deutlicher. Als der bunte Strudel ruhiger und blasser wurde, konnte er plötzlich Formen erkennen. Menschen. Pferde. Und Kioske. Immer klarer wurde das Bild. Er war nicht mehr in seinem Zimmer, sondern auf einem Marktplatz mit staubiger Erde.
Die Menschen trugen komische Kostüme aus fleckigem Leinen. Einige trugen geflochtene Körbe mit Gemüse. Ein Mann zog eine meckernde Ziege hinter sich her. Die Kioske entpuppten sich als Verkaufsstände für Obst und Gemüse. An manchen baumelten einfache Kochtöpfe aus Kupfer vom Dach, auf dem Tresen lagen Löffel und Schalen aus Holz in unterschiedlichen Größen. In kleinen Gehegen quiekten Schweine oder drückten sich Hühner aneinander. Statt Autos gab es Pferdefuhrwerke, die Waren aller Art geladen hatten. Es roch wie im Stall.
»Oh Gott, wo sind wir?«
Finn drehte sich suchend im Kreis, entdeckte dabei kleine Häuser aus Holz ohne Fensterscheiben und blieb schließlich mit Blick auf ein pompöseres Haus hinter dem Marktplatz stehen.
»Wann sind wir, das wäre die bessere Frage«, meldete sich Tea nah an Finns Ohr. Sie hatte es sich auf seiner Schulter gemütlich gemacht.
»Tea, was ist passiert???«
»Nur Theorie ist doch langweilig, oder?«
Ein Reiter galoppierte haarscharf an Finn vorbei und warf ihn fast in den Dreck. Finn hustete. Himmel, ist das staubig hier! Als er seine Hose ausklopfen wollte, sah er erst, dass diese und auch sein Hemd ebenfalls aus dem groben Stoff waren, aus dem alle hier anscheinend ihre Kleidung gemacht hatten. Dabei kratzte er doch fürchterlich.
»Das ist Leinen«, erklärte Tea. »Der wird aus Flachs hergestellt, deswegen kratzt er so. Die Baumwolle, aus der deine T-Shirts meistens hergestellt sind, kam erst später nach Europa.«
»Tea, wo sind wir???«
Die Puppe riss ihre Arme nach oben und schwenkte dann den linken, als präsentierte sie ein berühmtes Gebäude oder einen Tisch mit einem edlen Festmahl.
»Willkommen im Mittelalter!«
Bevor Finn begreifen konnte, was Tea gerade gesagt hatte, wurde er zum zweiten Mal fast über den Haufen geritten. Oben auf den Pferden saßen zwei leibhaftige Ritter! Tea schob seinen weit aufstehenden Mund wieder zu. Eine Menschenmenge umkreiste ihn, die sich langsam Richtung Stadtmitte schob. Über den flachen Häusern sah Finn die Türme einer Kathedrale herausragen.
»Lass uns mitgehen!«, schlug Tea vor.
Etwas überrumpelt von der ganzen Situation, und auch, weil ihm in dem Gewühl kaum eine andere Chance blieb, folgte Finn widerspruchslos der Anweisung. Mit langsamen Schritten fügte er sich in den Strom aus Menschen ein. Die Gerüche, die in seine Nasen drangen, waren ihm alle bekannt. Es war eine Mischung aus Schweiß, Stallgeruch und Toilette. Etwas aber schien zu fehlen. Erst als er ein Pferdefuhrwerk vorbei rumpeln sah, fiel ihm auf, dass es keine Autos und keine Abgase gab. Aber wie auch? Autos waren ja noch gar nicht erfunden! Er war im Mittelalter! Tatsächlich!
Tea hatte auf diesen Moment der Erkenntnis gewartet.
»Es ist das Jahr 1145», sagte sie nun, »und wir sind in der italienischen Stadt Vetralla. Lass uns mal weitergehen.«
Finn drängelte sich durch eine kleine Menschengruppe und stellt sich dann zu ein paar Kindern, die fröhlich in einer kleinen Pfütze spielten. Nur zwei von ihnen trugen weiche Lederschuhe ohne Sohlen, und die waren nicht nur dreckig, sondern auch schon kaputt. Bei dem einem Kind schaute fast der ganze große Zeh durch ein Loch hervor.
Plötzlich hielten die Kinder inne mit ihrem Spiel. Gespräche, von denen bis eben noch ein paar Fetzen zu Finn gedrungen waren, verstummten. Stattdessen ging ein leises Raunen durch die Menschenmenge. Finn reckte sich, konnte aber nicht erkennen, was da vorne los war. Er schob sich durch die Massen, bis er fast ganz vorne stand. Dann aber bewegte sich der ganze Pulk wieder weg, Finn wurde unweigerlich mitgeschoben. Vor dem östlichen Stadttor kamen alle wieder zum Stehen.
Dort hatte sich ein Mann in einer gewaltigen Robe aufgebaut, umringt von vielen anderen in ebenso pompösen Gewändern. Einige Kirchenmänner stellten sich vor ihm auf, um zu hören, was er verkünden wollte. Finn stand mit dem einfachen Volk weit hinten, sehen konnte er gar nichts. Tea stupste Finn an und zeigte auf einen Mauervorsprung. Gewandt kletterte Finn hinauf. Ah, nun hatte er einen kompletten Überblick über das Spektakel!
»Das ist übrigens Papst Eugen III«, erklärte Tea und zeigte auf den Mann mit der gewaltigen Robe.
Finn konnte nicht alles verstehen, was der Papst nun untermalt mit theatralischen Bewegungen seiner Arme von sich gab. Als er einen Satz mit ›das Leiden der Christen‹ aufhörte, jubelten die Zuhörer.
»Was hat er gesagt?«
»Das Leiden der Christen im Osten müsste beendet werden«, rief Tea laut in Finns Ohr.
Die Menschenmenge brauste erneut auf, ohne dass Finn wusste, warum.
»Die Heiligen Städte müssten befreit werden«, soufflierte Tea den nächsten Teil der Ansprache.
Immer wieder johlten die Anwesenden bei den Satzpausen des Papstes. Tea winkte jedoch nur ab. »Blabla«, machte sie mit den Lippen. Dann, kurze Zeit später, als Finn gerade begann, sich zu langweilen, zeigte sie nach vorne. Finn sah, wie sich einer der Kirchenmänner in den Staub kniete.
Plötzlich war alles still und er hörte deutlich den Mann sagen:
»Ich bitte ehrfürchtig um die Erlaubnis, den zweiten Kreuzzug führen zu dürfen.«
Der Papst nickte großzügig und die Menge jubelte. Viele schwenkten kämpferisch ihre Arme.
»Das ist ja wie im Theater«, rief Finn.
»Und damit hast du mehr Recht, als du glaubst. Der letzte Teil eben war nämlich einstudiert und kein spontaner Entschluss des Mannes.«
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