Hoare hob die Teetasse zum Mund, stellte sie aber wieder ab, weil sie leer war. »Wir kennen eine ganze Reihe von Möglichkeiten, die Molekülstruktur von Polymeren zu verbessern. Aber unsere Netze sind sehr unregelmäßig, und wir haben weder einen derart hohen und einen dermaßen einheitlichen Polymerisationsgrad noch ein so reines Pfropfencopolymer je gesehen. Ihre Substanz ist eine wissenschaftliche Sensation allerersten Ranges! Wenn man die Patente hätte ...« Der Professor beendete den Satz nicht, holte tief Luft und fragte: »Woher stammt das Copolymer?«
Laxmi warf mir einen Blick zu, und ich nickte leicht. »Tut mir leid, Herr Professor – die Antwort wird Sie sicher nicht befriedigen, obwohl es die Wahrheit ist«, sagte Laxmi mitfühlend. »Wir haben die Substanz als Überzug auf dem Fragment einer Galionsfigur gefunden, die vermutlich um 1600 hergestellt wurde – dem Schwanzende einer Meerjungfrau. Es trieb vor dem Kap der Guten Hoffnung im Ozean.«
»Waaas?« Hoare starrte uns entgeistert an. »Das gibt es doch nicht! Das ist ja nicht zu fassen!« Er musste tief durchschnaufen, weil er offenbar zu atmen vergessen hatte. »Wissen Sie was? Im Labor haben wir zunächst überlegt, ob Sie sich die Probe durch Industriespionage beschafft haben, und wir haben uns den Kopf zerbrochen, ob die Amerikaner, die Deutschen oder die Chinesen mit der Steuerung der Polymerisation schon so weit sind.«
Er stand auf, ging zu dem gotischen Butzenscheiben–Burgfenster und starrte hinaus. Nach ein paar Minuten sagte er wie im Selbstgespräch: »Da waren wir schön auf dem Holzweg.«
Immer noch aus dem Fenster blickend, setzte er hinzu: »Um ehrlich zu sein, haben wir das mit den Chinesen, den Deutschen oder den Amerikanern schon bald nicht mehr glauben können; denn in dem Material stecken technologische Fortschritte von Jahrzehnten. Fortschritte, die wir noch nicht gemacht haben!« Beim letzten Satz wurde er ziemlich laut.
Nach einer weiteren Pause drehte Hoare sich um. »Wissen Sie was? Als wir Ihre Probe analytisch geknackt hatten, die erste Aufregung abgeklungen war und sich der Streit über die Herkunft des Materials gelegt hatte, weil keiner seine Ansichten mit Belegen untermauern konnte«, sagte er leise, »haben wir kurz entschlossen über seinen Ursprung abgestimmt. Zur Wahl standen irdische Herkunft und außerirdische.« Er fixierte mich ein paar Sekunden wortlos, als wolle er mich auf die Tragweite dessen vorbereiten, was jetzt kam. »Mit fünf zu eins haben wir entschieden: Das Zeug ist nicht von dieser Welt.«
Die Schiffsunglücke von »Lloyds List« als Schlummerlektüre
oder
Ein plüschiges Hotel im Ärmelkanal
Auf der Rückfahrt nach London schwiegen wir die ersten dreißig Meilen lang. Dann begannen wir uns zu streiten. Es war nicht der übliche Zank um Geschwindigkeit, Fahrstil oder Streckenführung, von dem fast alle Paare beim gemeinsamen Autofahren heimgesucht werden. Es ging um Hoare: Ich war sauer auf den Professor, und Laxmi verteidigte ihn.
Was sollte das heißen, monierte ich, der Kunststoff sei »nicht von dieser Welt«? Es handelte sich doch ganz offenbar um eine Mixtur von zwei durch und durch bekannten irdischen Verbindungen aus Kohlenstoff, Wasserstoff und Sauerstoff. In jedem Kaufhaus waren sie, nahm ich an, in Dutzenden oder Hunderten von Plastikartikeln zu finden – unzerbrechlichen Trinkgläsern, Billig–Lesebrillen oder Wegwerfkameras.
Nur, weil die Kettenlänge und die molekulare Struktur der Acrylate Hoare Rätsel aufgaben und er nicht wusste, wie man diese zustande brachte, erklärte er den Plastikfilm auf der Nixenfluke zu einem Produkt von kleinen grünen Männchen aus dem Weltall! Das war lächerlich – eine Konsequenz der beleidigten Eitelkeit eines überfragten Forscherstars.
Wie sollte ich Chemikern auf den Zahn fühlen, die in den Weiten der Milchstraße herumsausten? Damn, ich war Jim Cunningham von der MIA und nicht Nick, der Weltraumfahrer!
Laxmi konterte mit der zweiten Vorlesung in Polymerchemie, die ich an diesem Tag über mich ergehen lassen musste – und die ich Ihnen, lieber Leser, leider nicht ganz ersparen kann. Sie redete über das Wachstum von Molekülketten, Start–, Wachstums– und Abbruchreaktionen, Katalysatoren aus Vanadiumjodid und Cobaltbromid und den enormen Schwierigkeiten, die Polymerisation wunschgemäß zu steuern.
Ich verstand vieles nur halb, aber mir wurde klar, dass Hoare nicht übertrieben hatte, als er das Material vom Überzug der Nixenfluke als »außergewöhnlich« bezeichnet hatte. Dass es außerirdischen Ursprungs war, glaubte ich trotzdem nicht. Das war Unfug. Da konnte Laxmi reden, wie sie wollte. Es war typisch menschlich, Dinge für extraterrestrisch zu halten, die zunächst unerklärlich schienen. Selbst der mühsam dahinkrauchenden ersten Dampflokomotive war das so gegangen.
Laxmi beschränkte sich darauf, mir zu verdeutlichen, wie unwahrscheinlich es aus wissenschaftlicher Sicht war, dass die Acrylatmischung aus irdischen Chemieretorten stammte. Sie vermied es, auf die kleinen grünen Männchen einzugehen. Das war clever, denn sie wusste genauso wenig wie ich, was in Dreiteufelsnamen eine derartige Substanz auf einem jahrhundertealten Stück Treibholz zu suchen hatte, wie und wann sie aufgebracht worden war und wer sie warum appliziert hatte.
Ich setzte Laxmi an ihrer Wohnung am Holland Park in Kensington ab. Sie sagte, sie wolle noch die Probe für die Dendrochronologie nehmen und per Kurier an die süddeutsche Universität abschicken, die mithilfe ihrer »mitteleuropäischen Eichenchronologie« ihr Alter bestimmen konnte – und vielleicht den Wald, in dem die Eiche vor einer kleinen Ewigkeit gewachsen war. Wir waren beide gereizt. Sicher hätten wir gern eine Pizza gegessen oder einen doppelten Cappuccino in einem Café getrunken und Zärtlichkeiten ausgetauscht, aber keiner von uns schaffte es, das zuzugeben. Das war idiotisch, weil wir uns aufgrund meiner Reisen und Laxmis Forschung ohnehin viel zu selten sahen. Die verdammte Fluke war drauf und dran, unsere Beziehung zu ruinieren.
Mürrisch fuhr ich nach Hause. Admiral Nelson war verärgert, dass ich Laxmi nicht mitbrachte und verbiss sich in meine Schuhriemen, obwohl er sehr gut wusste, dass das verboten war. Ich hatte große Lust, Laxmi anzurufen, sie um Verzeihung zu bitten, zum Abendessen bei einem Edel–Inder einzuladen und die Nacht mit ihr zu verbringen. Aber ich wusste, dass sie mir jedes Einlenken als Schwäche auslegen und keinesfalls kommen würde.
Es war schon komisch: Laxmi hasste Machos und deren »hartes« oder »cooles« Gehabe, verfluchte den unguten Einfluss der Männer, ihrer Politik und Aggressivität sowie der von ihnen angezettelten Kriege auf die Welt und ihre Geschichte, und sie rieb mir bei jeder Gelegenheit unter die Nase, welchen Prozentsatz der Verbrecher und Mörder in den Haftanstalten Männer ausmachten.
Aber man durfte keine »Schwäche« zeigen, ohne dass sie die edle Nase rümpfte. Rajasthanische Männer entschuldigten sich nun mal nicht bei Frauen. Keiner der einundvierzig Singh–Maharajas der Jaipur–Linie hatte je, so war zu vermuten, eine ihrer zahlreichen Frauen um Verzeihung gebeten – egal, wie schlimm ihr Vergehen war. Es ging einfach nicht. Es war nicht vorgesehen.
Zwar lebten wir im einundzwanzigsten Jahrhundert und in London, einer der freizügigsten Metropolen der Welt; Laxmi war ein Freigeist, hatte mit vielem Althergebrachtem aus ihrer Heimat gebrochen und hier im Westen gerade einen akademischen Grad erworben. Aber ihre erzkonservative Erziehung und ein von bärtigen Maharaja–Feldherren geprägtes Männerbild steckten ihr immer noch tief in den Knochen.
Ich las die »Times« und den »Independent«, fütterte Admiral Nelson mit seiner geliebten Lachspastete, goss mir einen Gin Tonic ein und setzte mich an den PC. Ich überflog meine Mails, schrieb ein paar Antworten und las »Lloyds List Casualty Focus«, eine Kurzfassung der Unfälle aus Schifffahrt, Flugverkehr, Eisenbahn und dem Energiesektor weltweit. Nachdem er sich auf meinem besten Sessel ausführlich geputzt hatte, nahm der große blaue Kartäuser zwischen Bildschirm und Tastatur Platz und schnurrte laut. Sein Fell verdeckte sämtliche Funktionstasten. Es war angenehm, zu wissen, dass ich wenigstens bei einem meiner beiden Hausgenossen gut angeschrieben war.
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